Ich gab Georgie die Hand und ging in mein Zimmer. Es war dunkel. Unwillkürlich sah ich zum Fenster, ehe ich Licht machte. Dann horchte ich zu Pat hinüber. Sie schlief. Ich ging zum Schrank, holte die Flasche Kognak und schenkte mir ein Glas ein. Es war guter Kognak, und es war gut, ihn zu haben. Ich stellte die Flasche auf den Tisch. Das letzte Glas daraus hatte Hasse getrunken. Ich dachte darüber nach, daß es besser gewesen wäre, ihn nicht allein zu lassen. Ich war bedrückt, aber ich konnte mir keinen Vorwurf machen. Ich hatte so vieles mitgemacht, daß ich wußte, daß entweder alles, was man tat, ein Vorwurf war, oder daß es nie einen gab. Es war das Unglück Hasses gewesen, daß ihm das an einem Sonntag passiert war. An einem Wochentag wäre er ins Büro gegangen und vielleicht darüber hinweggekommen.
Ich trank noch einen Kognak. Es hatte keinen Zweck, darüber nachzudenken. Wer weiß, was einem selber noch alles bevorstand. Kein Mensch wußte, ob er den, den er jetzt bedauerte, nicht noch einmal für glücklich halten würde.
Ich hörte, wie Pat sich regte, und ging hinüber. Sie sah mir entgegen.
»Es ist doch zum Verzweifeln mit mir, Robby«, sagte sie.»Da habe ich schon wieder fest geschlafen.«
»Das ist doch gut«, erwiderte ich.
»Nein.«Sie stützte sich auf die Ellbogen.»Ich will nicht so viel schlafen.«
»Warum nicht? Ich möchte manchmal in einem durch die nächsten fünfzig Jahre verschlafen.«
»Aber du möchtest dann nicht fünfzig Jahre älter sein!«
»Das weiß ich nicht. Das kann man immer erst nachher sagen.«
»Bist du traurig?«fragte sie.
»Nein«, sagte ich.»Im Gegenteil. Ich habe gerade beschlossen, daß wir uns anziehen und ganz wunderbar essen gehen werden. Alle Dinge, die du gern magst Und dazu werden wir uns ein bißchen betrinken.«
»Das ist gut«, erwiderte sie.»Gehört das noch mit zu unserm großen Bankrott?«
»Ja«, sagte ich,»das gehört noch mit dazu.«
XXI
Mitte Oktober ließ Jaffé mich rufen. Es war zehn Uhr morgens, aber das Wetter war so trübe, daß in der Klinik noch Licht brannte. Es vermischte sich mit der Nebeldämmerung von draußen zu einer fahlen, krankhaften Helligkeit.
Jaffé saß allein in seinem großen Sprechzimmer. Er hob den kahlen, beglänzten Kopf, als ich eintrat. Mürrisch zeigte er auf das große Fenster, gegen das der Regen klatschte.»Was sagen Sie zu diesem verdammten Wetter?«
Ich zuckte die Achseln.»Hoffentlich hört es bald mal auf.«
»Das hört nicht auf.«
Er sah mich an und schwieg. Dann nahm er einen Bleistift vom Schreibtisch, betrachtete ihn, klopfte damit auf die Platte und legte ihn wieder beiseite.
»Ich kann mir denken, weshalb Sie mich gerufen haben«, sagte ich.
Jaffé knurrte irgend etwas. Ich wartete einen Augenblick. Dann sagte ich:»Pat muß wohl jetzt bald fort?«
»Ja…«
Jaffé starrte ärgerlich vor sich hin.»Ich hatte mit Ende Oktober gerechnet. Aber bei diesem Wetter…«Er griff nach dem silbernen Bleistift.
Der Wind warf einen Schauer Regen prasselnd gegen das Fenster. Es klang wie fernes Maschinengewehrfeuer.»Wann denken Sie, daß sie reisen soll?«fragte ich.
Er sah mich plötzlich von unten herauf voll an.»Morgen«, sagte er.
Ich spürte eine Sekunde keinen Boden unter den Füßen.
Die Luft war wie Watte und klebte mir in der Lunge. Dann ging es vorüber, und ich fragte, so ruhig ich konnte, aber meine Stimme kam weit her, als fragte ein anderer:»Ist es auf einmal so viel schlimmer geworden?«
Jaffé schüttelte heftig den Kopf und stand auf.»Wenn es sich so schnell verändert hätte, könnte sie doch überhaupt nicht fahren«, erklärte er unfreundlich.»Es ist nur besser. Bei diesem Wetter ist jeder Tag eine Gefahr. Erkältungen und so was…«
Er nahm ein paar Briefe vom Schreibtisch.»Ich habe schon alles vorbereitet. Sie brauchen nur abzufahren. Den Chefarzt des Sanatoriums kenne ich seit meiner Studienzeit. Er ist sehr tüchtig. Ich habe ihn genau informiert.«
Er gab mir die Briefe. Ich nahm sie, aber ich steckte sie nicht ein. Er sah mich an, dann blieb er vor mir stehen und legte eine Hand auf meinen Arm. Sie war leicht wie ein Vogelflügel, ich spürte sie überhaupt nicht.»Schwer«, sagte er leise mit veränderter Stimme,»ich weiß es. Deshalb habe ich auch damit gewartet, solange es ging.«
»Es ist nicht schwer…«, erwiderte ich.
Er wehrte ab.»Lassen Sie nur…«
»Nein«, sagte ich,»so meine ich das auch nicht. Ich möchte nur eines wissen: Kommt sie zurück?«
Jaffé schwieg einen Augenblick. Seine dunklen, schmalen Augen glänzten in dem trüben gelben Licht.»Weshalb wollen Sie das jetzt wissen?«fragte er nach einer Weile.
»Weil es sonst besser ist, daß sie nicht fährt«, sagte ich.
Er blickte rasch auf.»Was sagen Sie da?«
»Es ist sonst besser, daß sie hierbleibt.«
Er starrte mich an.»Wissen Sie auch, was das mit Sicherheit bedeuten würde?«fragte er dann leise und scharf.
»Ja«, sagte ich.»Es würde bedeuten, daß sie nicht allein sterben würde. Und was das heißt, weiß ich auch.«
Jaffé hob die Schultern hoch, als fröstele er. Dann ging er langsam zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Als er zurückkam, war sein Gesicht eine Maske. Er blieb dicht vor mir stehen.»Wie alt sind Sie?«fragte er.
»Dreißig«, erwiderte ich. Ich begriff nicht, was er wollte.
»Dreißig«, wiederholte er in einem merkwürdigen Tone, als spräche er zu sich selbst und hätte mich gar nicht verstanden.»Dreißig, mein Gott!«Er ging zu seinem Schreibtisch und blieb dort stehen, klein und abwesend neben dem riesigen, blanken Möbel.»Ich bin jetzt bald sechzig«, sagte er, ohne mich anzusehen,»aber ich könnte das nicht. Ich würde immer wieder alles versuchen, immer wieder, und wenn ich genau wüßte, daß es zwecklos wäre.«
Ich schwieg. Jaffé stand da, als hätte er alles um sich herum vergessen. Dann machte er eine Bewegung, und sein Gesicht wechselte den Ausdruck. Er lächelte.»Ich glaube bestimmt, daß sie oben den Winter gut überstehen wird.«
»Nur den Winter?«fragte ich.
»Ich hoffe, daß sie dann im Frühjahr wieder herunter kann.«
»Hoffen«, sagte ich,»was heißt hoffen?«
»Alles«, erwiderte Jaffé.»Immer alles. Ich kann Ihnen jetzt nicht mehr sagen. Das andere sind Möglichkeiten. Man muß sehen, wie es oben wird. Aber ich hoffe bestimmt, daß sie im Frühjahr zurückkommen kann.«
»Bestimmt?«
»Ja.«Er ging um den Schreibtisch herum und stieß mit dem Fuß eine offenstehende Schublade so heftig zu, daß die Gläser klirrten.»Verdammt, Mann, es geht mir doch selber nahe, daß sie weg muß!«murmelte er.
Eine Schwester kam herein. Jaffé winkte ihr ab. Sie blieb trotzdem stehen, untersetzt, vierschrötig, mit einem Bulldoggengesicht unter grauem Haar.
»Nachher!«knurrte Jaffé,»kommen Sie nachher wieder!«
Die Schwester drehte sich ärgerlich um. Im Hinausgehen knipste sie das elektrische Licht aus. Grau und milchig stand plötzlich der Tag in dem großen Raum. Jaffés Gesicht war auf einmal ganz fahl.»Alte Hexe!«sagte er.»Seit zwanzig Jahren will ich sie schon 'rauswerfen. Ist nur zu tüchtig.«
Dann wandte er sich mir zu.»Nun?«
»Wir fahren heute abend«, sagte ich.
»Heute?«
»Ja. Wenn es schon sein muß, dann ist heute besser als morgen. Ich werde sie hinbringen. Ein paar Tage kann ich schon hier weg.«
Er nickte und gab mir die Hand.
Ich ging. Der Weg zur Tür erschien mir sehr weit.
Draußen blieb ich stehen. Ich merkte, daß ich die Briefe noch in der Hand hatte. Der Regen klatschte auf das Papier. Ich wischte die Briefe ab und steckte sie in die Brusttasche. Dann sah ich mich um. Ein Omnibus hielt gerade vor dem Hause. Er war voll besetzt, und ein Schwarm von Leuten drängte hinaus. Ein paar Mädchen in schwarzen, glänzenden Regenmänteln lachten mit dem Schaffner. Er war jung, und die weißen Zähne blitzten in seinem braunen Gesicht. Das geht doch nicht, dachte ich, das kann doch alles nicht stimmen! So viel Leben, und Pat muß fort!