»Aber Robby!«Lachend schob sie mich zurück.»Du hast keine Ahnung davon. Siehst du überhaupt manchmal, was ich anhabe?«
»Ich sehe jede Kleinigkeit«, erklärte ich und hockte mich dicht neben sie auf den Boden, allerdings etwas in den Schatten, wegen meiner Nase.
»So? Was habe ich denn gestern abend angehabt?«
»Gestern?«Ich dachte nach. Ich wußte es tatsächlich nicht.
»Das habe ich erwartet, Liebling! Du weißt ja überhaupt fast gar nichts von mir.«
»Stimmt«, sagte ich,»aber das ist gerade das Schöne. Je mehr man voneinander weiß, desto mehr mißversteht man sich. Und je näher man sich kennt, desto fremder wird man sich. Sieh mal die Familie Hasse an; – die wissen alles voneinander und sind sich mehr zuwider als die fremdesten Menschen.«
Sie setzte die kleine schwarze Kappe auf und probierte sie vor dem Spiegel.»Was du da sagst, stimmt nur halb, Robby.«
»Das ist mit allen Wahrheiten so«, erwiderte ich.»Weiter kommen wir nie. Dafür sind wir Menschen. Und wir machen schon genug Unsinn mit unsern halben Wahrheiten. Mit den ganzen könnten wir überhaupt nicht leben.«
Sie setzte den Hut ab und legte ihn fort. Dann drehte sie sich um. Dabei erblickte sie meine Nase.»Was ist denn das?«fragte sie erschrocken.
»Nichts Schlimmes. Es sieht nur so aus. Beim Arbeiten unter dem Wagen ist mir was drauf gefallen.«
Sie sah mich ungläubig an.»Wer weiß, wo du wieder gewesen bist! Du sagst mir ja nie etwas. Ich weiß von dir ebensowenig wie du von mir.«
»Das ist auch besser«, sagte ich.
Sie holte eine Schale mit Wasser und ein Tuch und machte mir eine Kompresse. Dann betrachtete sie mich noch einmal.»Es sieht wie ein Schlag aus. Dein Hals ist auch zerkratzt. Du wirst sicher irgendein Abenteuer gehabt haben, Liebling.«
»Mein größtes Abenteuer heute kommt noch«, sagte ich.
Sie sah überrascht auf.»So spät noch, Robby? Was hast du denn noch vor?«
»Ich bleibe hier!«erwiderte ich, warf die Kompresse weg und nahm sie in die Arme.»Ich bleibe den ganzen Abend hier mit dir zusammen!«
XX
Der August war warm und klar, und auch im September das Wetter noch fast sommerlich; – aber dann fing es Ende September an zu regnen, die Wolken hingen tagelang tief über der Stadt, die Dächer trieften, es begann zu stürmen, und als ich an einem Sonntag früh erwachte und ans Fenster trat, sah ich in den Bäumen auf dem Friedhof schwefelgelbe Flecken und die ersten kahlen Äste.
Ich blieb eine Zeitlang am Fenster stehen. Es war sonderbar gewesen in diesen Monaten, seit wir von der See zurückgekommen waren – ich hatte immer, in jeder Stunde, gewußt, daß Pat im Herbst fortmußte, aber ich hatte es gewußt, so wie man vieles weiß: – daß die Jahre vergehen, daß man älter wird und daß man nicht ewig leben kann. Die Gegenwart war stärker gewesen, sie hatte alle Gedanken stets wieder beiseite gedrängt, und solange Pat da war und die Bäume noch voll im grünen Laub gestanden hatten, waren Worte wie Herbst und Fortgehen und Abschied nie mehr gewesen als blasse Schatten am Horizont, die das Glück der Nähe und des Nochbeieinanderseins nur um so stärker empfinden ließen.
Ich sah hinaus auf den nassen, verregneten Friedhof und auf die Grabsteine, die von schmutzigem braunem Laub bedeckt waren. Wie ein bleiches Tier hatte der Nebel über Nacht den grünen Saft aus den Blättern der Bäume gesogen, matt und kraftlos hingen sie an den Zweigen, jeder Windstoß, der hindurchfuhr, riß neue ab und trieb sie vor sich her – und wie einen scharfen, schneidenden Schmerz spürte ich plötzlich, zum erstenmal, daß die Trennung bald da war, daß sie Wirklichkeit wurde, ebenso Wirklichkeit wie der Herbst, der durch die Wipfel draußen geschlichen war und seine gelben Spuren hinterlassen hatte.
Ich horchte zum Zimmer nebenan hinüber. Pat schlief noch. Ich ging zur Tür und blieb dort eine Weile stehen. Sie schlief ruhig und hustete nicht. Einen Augenblick packte mich eine jähe Hoffnung – ich stellte mir vor, daß Jaffé heute oder morgen oder in den nächsten Tagen anrufen würde, um mir zu sagen, sie brauche nicht fort – aber dann dachte ich an die Nächte, in denen ich das leise Rascheln ihres Atems gehört hatte, dieses regelmäßige, gedämpfte Scharren, das kam und ging wie das Geräusch einer sehr fernen, dünnen Säge – und die Hoffnung erlosch ebenso rasch, wie sie aufgeflackert war.
Ich ging zum Fenster zurück und starrte wieder hinaus in den Regen. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und begann mein Geld zu zählen. Ich rechnete mir aus, wie lange es für Pat reichen könnte, aber mir wurde elend dabei, und ich schloß es wieder weg.
Ich sah nach der Uhr. Es war kurz vor sieben. Ich hatte noch mindestens zwei Stunden Zeit, ehe Pat aufwachte. Rasch zog ich mich an, um noch etwas hinauszufahren. Es war besser, als mit seinen Gedanken allein im Zimmer zu bleiben.
Ich ging zur Werkstatt, holte die Droschke und fuhr langsam durch die Straßen. Es waren wenig Leute unterwegs. In den Arbeitergegenden standen die langen Reihen der Mietskasernen kahl und öde da wie alte, traurige Huren im Regen. Die Fassaden waren abgebröckelt und verschmutzt, die trüben Fenster blinzelten freudlos in den Morgen, und der zerblätternde Putz der Mauern zeigte an vielen Stellen tiefe gelbgraue Löcher, als wäre er von Geschwüren zerfressen.
Ich durchquerte die Altstadt und fuhr zum Dom. Vor dem kleinen Eingang ließ ich den Wagen stehen und stieg aus. Durch die schwere Eichentür hörte ich halblaut die Klänge der Orgel. Es war gerade die Zeit der Morgenmesse, und ich hörte an der Orgel, daß die Opferung soeben begonnen hatte – es mußte also noch mindestens zwanzig Minuten dauern, bevor die Messe beendet war und die Leute herauskamen.
Ich ging in den Kreuzgarten. Er lag in grauem Licht. Die Rosenbüsche trieften im Regen, aber die meisten hatten noch Blüten. Mein Regenmantel war ziemlich weit, und ich konnte die Zweige, die ich abschnitt, gut darunter verstecken. Obschon es Sonntag war, kam niemand vorüber, und ich brachte den ersten Armvoll Rosen ungehindert zum Wagen. Dann ging ich zurück, um noch einen zweiten zu holen. Als ich ihn gerade unter meinem Mantel hatte, hörte ich jemand durch den Kreuzweg kommen. Ich klemmte den Strauß mit dem Arm fest und blieb vor einer der Rosenkranzstationen stehen, als ob ich betete.
Die Schritte kamen näher, aber sie gingen nicht vorbei, sondern hielten an. Mir wurde etwas schwül. Ich blickte sehr vertieft auf das Steinbild, schlug ein Kreuz und ging langsam weiter zur nächsten Station, die etwas entfernter vom Kreuzgang war. Die Schritte folgten mir und hielten wieder an. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Weitergehen konnte ich jetzt nicht gleich, ich mußte mindestens so lange ausharren, wie es dauerte, um zehn Ave Maria und ein Vaterunser zu beten; – sonst hätte ich mich sofort verraten. Ich blieb also stehen und blickte, um festzustellen, was los war, vorsichtig, mit abweisendem Gesicht auf, als würde ich in der Andacht gestört.
Ich sah in das freundliche, runde Gesicht eines Pastors und atmete auf. Ich hielt mich schon für gerettet, weil ich wußte, daß er mich beim Beten nicht unterbrechen würde – da bemerkte ich, daß ich unglücklicherweise die letzte Station des Rosenkranzes erwischt hatte. Selbst wenn ich noch so langsam betete, mußte ich in ein paar Minuten fertig sein, und das war es auch, worauf er anscheinend wartete. Es hatte keinen Zweck, die Sache weiter hinzuziehen. Ich ging also langsam und unbeteiligt dem Ausgang zu.
»Guten Morgen«, sagte der Pfarrer.»Gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit, Amen!«erwiderte ich. Es war der kirchliche Gruß der Katholiken.
»Es ist selten, daß jemand um diese Zeit schon hier ist«, sagte er freundlich und sah mich aus hellen blauen Kinderaugen an.
Ich murmelte irgend etwas.
»Leider ist es selten geworden«, fuhr er etwas bekümmert fort.»Besonders Männer sieht man kaum noch den Kreuzweg beten. Ich freue mich deshalb über Sie und habe Sie darum auch angesprochen. Sie haben sicher eine besondere Bitte, daß Sie so früh und bei diesem Wetter gekommen sind…«