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Es war der älteste Vogt. Köster hatte ihm einen Arm umgedreht und über den Rücken hochgerissen. Vogt war mit dem Kopf voran zu Boden gegangen, und Köster kniete jetzt auf seinem Rücken und drehte den Arm weiter. Gleichzeitig schob er ihn mit dem Knie näher zum Nacken heran. Vogt heulte, aber Köster wußte, daß er ihn richtig fertigmachen mußte, wenn wir Ruhe haben wollten. Er renkte ihm mit einem Ruck den Arm aus und ließ ihn erst dann los. Vogt blieb eine Weile am Boden liegen. Ich sah auf. Einer der Brüder stand noch, aber das Schreien seines Bruders hatte ihn förmlich gelähmt.

»Macht euch weg, sonst geht's noch mal los«, sagte Köster zu ihm.

Ich schlug meinem Vogt zum Abschied noch einmal den Schädel auf die Straße und ließ dann los. Lenz stand schon neben Köster. Seine Jacke war zerrissen. Er blutete aus dem Mundwinkel. Der Kampf schien unentschieden gewesen zu sein, denn sein Vogt blutete zwar auch, stand aber ebenfalls. Die Niederlage des ältesten Bruders hatte alles entschieden. Keiner wagte noch ein Wort. Sie halfen dem ältesten auf und gingen zu ihrem Wagen. Der Unverletzte kam noch einmal zurück und holte den Wagenheber. Er schielte Köster an, als wäre er der Teufel. Dann rasselte der Mercedes los.

Auf einmal war der Schmied wieder da.»Die haben genug«, sagte er.»So was ist denen lange nicht passiert. Der älteste hat schon wegen Totschlag gesessen.«

Niemand antwortete ihm. Köster schüttelte sich plötzlich.»Schweinerei«, sagte er. Dann drehte er sich um.»Los!«

»Bin schon da«, erwiderte Jupp und rollte den Schleppesel heran.

»Komm mal her«, sagte ich.»Ab heute bist du Unteroffizier und darfst mit Zigarrenrauchen anfangen.«

Wir bockten den Wagen auf und befestigten ihn mit dem Drahtseil hinter Karl.»Glaubst du, daß es ihm nicht schadet?«fragte ich Köster.»Karl ist schließlich ein Rennpferd und kein Packesel.«

Er schüttelte den Kopf.»Ist ja nicht weit. Und ebene Straße.«Lenz setzte sich in den Stutz, und wir fuhren langsam los. Ich drückte mein Taschentuch gegen die Nase und schaute über die abendlichen Felder und in die sinkende Sonne. Es war ein ungeheurer, durch nichts zu erschütternder Friede darin, und man spürte, daß es der Natur völlig gleichgültig war, was dieses bösartige Ameisengewimmel, Menschheit genannt, auf der Welt trieb. Es war viel wichtiger, daß die Wolken jetzt allmählich zu goldenen Gebirgen wurden, daß die violettfarbenen Schatten der Dämmerung lautlos vom Horizont heranwehten, daß die Lerchen aus der grenzenlosen Weite des Himmels heimkehrten in ihre Ackerfurchen und daß es langsam Nacht wurde.

Wir fuhren auf unsern Hof ein. Lenz kletterte aus dem Stutz und nahm feierlich den Hut vor ihm ab.»Sei gegrüßt, Gesegneter! Du kommst aus traurigem Anlaß hierher, aber uns wirst du, mit liebevollem Auge oberflächlich geschätzt, etwa drei- bis dreieinhalbtausend Mark einbringen. Und jetzt gebt mir ein großes Glas Kirschwasser und ein Stück Seife – ich muß die Familie Vogt loswerden!«

Wir tranken alle ein Glas, dann gingen wir sofort daran, den Stutz möglichst weit auseinanderzunehmen. Es genügte nämlich nicht immer, daß der Besitzer allein den Auftrag zur Reparatur gab; – oft kam nachträglich noch die Versicherungsgesellschaft um den Wagen anderswohin, in eine ihrer Vertragswerkstätten, zu geben. Je weiter wir deshalb kamen, um so besser war es. Die Kosten für die Neumontage waren dann schon so hoch, daß es billiger war, den Wagen bei uns zu lassen. Es war dunkel, als wir aufhörten.»Fährst du heute abend noch Taxi?«fragte ich Lenz.

»Ausgeschlossen«, erwiderte Gottfried.»Man soll das Geldverdienen auf keinen Fall übertreiben. Der Stutz genügt mir.«

»Mir nicht«, sagte ich.»Wenn du nicht fährst, werde ich von elf bis zwei die Nachtlokale abgrasen.«

»Laß das lieber«, schmunzelte Gottfried.»Sieh statt dessen mal in den Spiegel. Du hast in letzter Zeit Pech mit deiner Nase. Mit der Runkelrübe steigt kein Mensch bei dir ein. Geh ruhig nach Hause und leg dir Kompressen drauf.«

Er hatte recht. Es ging wirklich nicht mit meiner Nase. Ich verabschiedete mich deshalb bald und ging nach Hause. Unterwegs traf ich Hasse und ging mit ihm das letzte Stück zusammen. Er sah verstaubt und elend aus.»Sie sind dünner geworden«, sagte ich.

Er nickte und erzählte mir, daß er abends nicht mehr richtig äße. Seine Frau sei fast jeden Tag bei den Bekannten, die sie gefunden hätte, und käme immer erst spät nach Hause. Er sei froh, daß sie Unterhaltung habe, aber abends hätte er keine Lust, sich allein etwas zu essen zu machen. Er hätte auch nicht viel Hunger; er sei viel zu müde dazu.

Ich sah ihn von der Seite an, während er mit hängenden Schultern neben mir herging. Vielleicht glaubte er wirklich, was er sagte, aber es war doch jammervoll, es mit anzuhören. Es war nur ein bißchen Sicherheit und ein bißchen Geld, woran diese Ehe und dieses sanfte, bescheidene Leben scheiterte. Ich dachte daran, daß es Millionen solcher Menschen gab und daß es immer nur das bißchen Sicherheit und das bißchen Geld war. Das Dasein war in einer entsetzlichen Weise zusammengeschrumpft zu dem armseligen Kampf um die nackte Existenz. Ich dachte an die Prügelei heute nachmittag, ich dachte an das, was ich in den letzten Wochen gesehen hatte, ich dachte an alles, was ich schon gemacht hatte, und dann dachte ich an Pat und hatte plötzlich das Gefühl, daß das nie zusammenkommen könnte. Der Sprung war zu groß, das Leben war zu dreckig geworden für das Glück, es konnte nicht dauern, man glaubte nicht mehr daran, es war eine Atempause, aber kein Hafen.

Wir stiegen die Treppe hinauf und schlossen die Tür auf. Auf dem Vorplatz blieb Hasse stehen.»Also dann auf Wiedersehen…«

»Essen Sie heute mal was«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf mit einem schwachen Lächeln, als wollte er um Entschuldigung bitten, und ging in sein leeres dunkles Zimmer. Ich blickte ihm nach. Dann ging ich weiter den Schlauch des Korridors entlang. Plötzlich hörte ich leises Singen. Ich blieb stehen und horchte. Es war nicht Erna Bönigs Grammophon, wie ich zuerst glaubte; es war die Stimme Pats. Sie war allein in ihrem Zimmer und sang. Ich sah nach der Tür hinüber, hinter der Hasse verschwunden war, ich beugte mich wieder vor und lauschte, und dann preßte ich plötzlich die Hände zusammen – verflucht, mochte es tausendmal nur eine Atempause und kein Hafen sein, mochte es tausendmal zu weit auseinanderliegen, so daß man nicht daran glauben konnte – gerade weil man nicht daran glauben konnte, gerade deshalb war es immer und immer wieder bestürzend neu und überwältigend, das Glück!

Pat hörte mich nicht kommen. Sie saß auf dem Boden vor dem Spiegel und probierte an einem Hut herum, einer kleinen schwarzen Kappe. Neben ihr auf dem Teppich stand die Lampe. Das Zimmer war voll von einer warmen braungoldenen Dämmerung, und nur ihr Gesicht war hell vom Licht bestrahlt. Sie hatte sich einen Stuhl herangerückt, von dem ein bißchen Seide herunterhing. Auf dem Sitz lag eine Schere und blitzte.

Ich blieb ruhig an der Tür stehen und sah zu, wie sie ernsthaft an der Kappe arbeitete. Sie liebte es, auf dem Boden zu sitzen, und ich hatte sie manchmal schon abends eingeschlafen in irgendeiner Zimmerecke auf dem Boden gefunden, neben sich ein Buch und den Hund.

Der Hund lag auch jetzt neben ihr und begann zu knurren. Pat blickte auf und sah mich im Spiegel. Sie lächelte, und mir schien, als ob alles in der Welt heller dadurch würde. Ich ging durch das Zimmer, kniete hinter ihr nieder und legte meinen Mund nach all dem Dreck des Tages auf die warme, weiche Haut des Nackens vor mir.

Sie hob die schwarze Kappe hoch.»Ich habe sie geändert, Liebling. Gefällt sie dir so?«

»Es ist ein ganz herrlicher Hut«, sagte ich.

»Aber du siehst ja gar nicht hin! Ich habe hinten den Rand abgeschnitten und ihn vorn hochgeklappt.«

»Ich sehe ihn ganz genau«, sagte ich mit dem Gesicht in ihrem Haar,»es ist ein Hut, bei dem die Pariser Schneider vor Neid erbleichen würden, wenn sie ihn sähen.«

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