Das alles geschah in wenigen Sekunden. Im nächsten Augenblick waren wir mit unserm immer noch hohen Tempo heran, die Reifen knirschten, Köster warf Karl wie ein Pferd zwischen dem Motorradfahrer, dem Rad und dem querstehenden, dampfenden Wagen hindurch, er berührte links fast die Hand des Gestürzten und rechts das Heck des Wagens, dann brüllte der Motor auf, zwang Karl wieder in die Gerade, die Bremsen kreischten, und es wurde still.»Gut gemacht, Otto«, sagte Lenz.
Wir liefen zurück und rissen die Türen des Wagens auf. Der Motor lief noch. Köster griff zum Schaltbrett und zerrte den Schlüssel heraus. Das Keuchen der Maschine erstarb, und wir hörten Stöhnen.
Sämtliche Scheiben der schweren Limousine waren zersplittert. Im Halbdunkel des Innern sahen wir das blutüberströmte Gesicht einer Frau. Neben ihr war ein Mann, zwischen Steuerrad und Sitz gequetscht. Wir hoben zuerst die Frau heraus und legten sie auf die Straße. Ihr Gesicht war voller Schnitte, ein paar Splitter steckten noch darin, aber das Blut lief regelmäßig. Schlimmer war der rechte Arm. Der Ärmel der weißen Kostümjacke war hellrot und tropfte stark. Lenz schnitt ihn auf. Ein Schwall Blut floß heraus, dann pulste es weiter. Die Ader war zerschnitten. Lenz drehte sein Taschentuch zu einem Knebel.»Macht den Mann frei, ich werde hier schon fertig«, sagte er.»Wir müssen rasch ins nächste Krankenhaus.«
Um den Mann loszubekommen, mußten wir die Sitzlehne abschrauben. Zum Glück hatten wir Werkzeug genug bei uns, und es ging ziemlich schnell. Der Mann blutete ebenfalls und hatte anscheinend ein paar Rippen gebrochen. Als wir ihm heraushalfen, fiel er mit einem Schrei um. Es war auch was mit dem Knie los. Aber wir konnten im Augenblick nichts daran tun.
Köster fuhr Karl rückwärts bis dicht an die Unglücksstelle heran. Die Frau bekam einen Schreikrampf vor Angst, als sie ihn so näher kommen sah, obschon er im Schritt fuhr. Wir legten die Lehne eines der Vordersitze zurück und konnten so den Mann hinlegen. Die Frau setzten wir auf den Hintersitz. Ich stellte mich neben sie auf das Trittbrett, Lenz hielt ebenso von der andern Seite den Mann fest.»Bleib hier und paß auf den Wagen auf, Jupp«, sagte Lenz.
»Wo ist eigentlich der Motorradfahrer geblieben?«fragte ich.
»Abgehauen, als wir am Arbeiten waren«, erklärte Jupp.
Wir fuhren langsam los. In der Nähe des nächsten Dorfes war ein kleines Sanatorium. Wir hatten es oft im Vorüberfahren gesehen. Es lag weiß und niedrig auf einem Hügel. Soviel wir wußten, war es eine Art Privatirrenanstalt für leichtkranke, reiche Patienten – aber sicher war ein Arzt da und ein Verbandsraum.
Wir fuhren den Hügel hinauf und klingelten. Eine sehr hübsche Schwester kam heraus. Sie wurde blaß, als sie das Blut sah, und lief zurück. Gleich darauf kam eine zweite, bedeutend ältere.»Bedaure«, sagte sie sofort,»wir sind nicht auf Unfälle eingerichtet. Sie müssen zum Virchow-Krankenhaus fahren. Es ist nicht weit.«
»Es ist fast eine Stunde von hier«, erwiderte Köster.
Die Schwester sah ihn abweisend an.»Wir sind gar nicht auf so etwas eingerichtet. Es ist auch kein Arzt da…«
»Dann verstoßen Sie gegen das Gesetz«, erklärte Lenz.»Privatanstalten Ihrer Art müssen einen ständigen Arzt haben. Würden Sie mir erlauben, einmal Ihr Telefon zu benützen? Ich möchte mit der Polizeidirektion und der Redaktion des Tageblattes telefonieren.«
Die Schwester wurde unschlüssig.»Ich glaube, Sie können beruhigt sein«, sagte Köster kalt.»Ihre Arbeit wird Ihnen sicher gut bezahlt werden. Wir brauchen zunächst eine Tragbahre. Den Arzt werden Sie ja wohl erreichen können.«Sie zögerte immer noch.»Eine Tragbahre«, erläuterte Lenz,»gehört ebenfalls laut Gesetz, ebenso wie ausreichendes Verbandsmaterial…«
»Jaja«, erwiderte sie hastig, scheinbar niedergeschmettert durch so viel Kenntnisse,»sofort, ich schicke jemand…«
Sie verschwand.»Allerhand«, sagte ich.
»Kann dir auch im Städtischen Krankenhaus passieren«, antwortete Gottfried gleichmütig.»Erst kommt das Geld, dann die Bürokratie, dann die Hilfe.«
Wir gingen zum Wagen zurück und halfen der Frau heraus. Sie sagte nichts; sie blickte nur auf ihre Hände. Wir brachten sie in einen kleinen Ordinationsraum im Parterre. Dann kam die Tragbahre für den Mann. Wir hoben ihn hinauf. Er stöhnte.»Einen Augenblick…«
Wir sahen ihn an. Er schloß die Augen.»Ich möchte, daß niemand etwas erfährt«, sagte er mühsam.
»Sie waren völlig ohne Schuld«, erwiderte Köster.»Wir haben den Unfall genau gesehen und sind gern Zeugen für Sie.«
»Das ist es nicht«, sagte der Mann.»Ich möchte aus anderen Gründen, daß nichts bekannt wird. Sie verstehen…«Er blickte nach der Tür, durch die die Frau gegangen war.
»Dann sind Sie hier am richtigen Platz«, erklärte Lenz.»Es ist ein Privathaus. Das einzige wäre nur noch, daß Ihr Wagen verschwindet, ehe die Polizei ihn sieht.«
Der Mann stützte sich auf.»Würden Sie das für mich noch machen? Eine Reparaturanstalt anrufen? Und geben Sie mir bitte Ihre Adresse! Ich möchte – ich bin Ihnen zu Dank…«
Köster wehrte mit einer Handbewegung ab.»Doch«, sagte der Mann,»ich wüßte gern…«
»Ganz einfach«, erwiderte Lenz.»Wir haben selbst eine Reparaturwerkstatt und sind Spezialisten für Wagen wie den Ihren. Wir werden ihn gleich mitnehmen, wenn Sie einverstanden sind, und ihn wieder in Ordnung bringen. Damit ist Ihnen geholfen und uns gewissermaßen auch.«
»Gern«, sagte der Mann.»Wollen Sie meine Adresse – ich komme dann selbst, den Wagen holen. Oder schicke jemand.«
Köster steckte die Visitenkarte in die Tasche, und wir trugen ihn hinein. Der Arzt, ein junger Mann, war inzwischen gekommen. Er hatte das Blut vom Gesicht der Frau abgewaschen, und man sah jetzt die tiefen Schnitte. Die Frau hob sich auf den gesunden Arm und starrte in das blinkende Nickel einer Schale auf dem Verbandstisch.»Oh«, sagte sie leise und ließ sich zurückfallen, mit entsetzten Augen.
Wir fuhren zum Dorf und fragten nach einer Werkstatt. Dort liehen wir uns bei einem Schmied eine Abschleppvorrichtung und ein Seil und versprachen dem Mann zwanzig Mark dafür. Doch der war mißtrauisch und wollte den Wagen sehen. Wir nahmen ihn mit und fuhren zurück.
Jupp stand mitten auf der Straße und winkte. Aber wir sahen ohne ihn schon, was los war. Ein alter, hochbordiger Mercedes stand am Straßenrand, und vier Leute waren dabei, den Stutz abzuschleppen.
»Da kommen wir ja gerade noch zurecht«, sagte Köster.
»Das sind die Brüder Vogt«, erwiderte der Schmied.»Gefährliche Bande. Wohnen drüben. Was die in den Fingern haben, geben sie nicht wieder her.«
»Mal sehen«, sagte Köster.
»Ich habe denen da schon alles erklärt, Herr Köster«, flüsterte Jupp.»Schmutzkonkurrenz. Wollen den Wagen für ihre eigene Werkstatt haben.«
»Schön, Jupp. Bleibt mal vorläufig hier.«
Köster ging auf den größten der vier zu und sprach ihn an. Er erklärte ihm, daß der Wagen uns gehöre.»Hast du irgend etwas Hartes bei dir?«fragte ich Lenz.
»Nur einen Schlüsselbund, und den brauche ich selber.
Nimm einen kleinen Engländer.«
»Lieber nicht«, sagte ich,»das könnte zu schwerer Körperverletzung führen. Schade, daß ich so leichte Schuhe anhabe. Sonst wäre Treten immer noch das beste.«
»Machen Sie mit?«fragte Lenz den Schmied.»Dann sind wir vier gegen vier.«
»Ich werde mich hüten! Damit die mir morgen die Bude einschlagen. Ich bleibe streng neutral.«
»Auch richtig«, sagte Gottfried.
»Ich mache mit«, erklärte Jupp.
»Untersteh dich!«sagte ich.»Du paßt auf, ob jemand kommt, weiter nichts.«
Der Schmied entfernte sich ein Stück von uns, um seine strenge Neutralität noch deutlicher zu zeigen.
»Quatsch keine Opern!«hörte ich gleich darauf den größten der Brüder Vogt Köster anknarren.»Wer zuerst da ist, mahlt zuerst! Fertig! Und nun schiebt ab!«
Köster erklärte nochmals, daß der Wagen uns gehöre. Er bot Vogt an, ihn in das Sanatorium zu fahren, damit er sich dort erkundigen könne. Der grinste verächtlich. Lenz und ich kamen näher.»Ihr wollt wohl auch ins Krankenhaus, was?«fragte Vogt. Köster antwortete nicht, sondern ging an das Auto heran. Die drei andern Vogts richteten sich auf. Sie standen jetzt dicht zusammen.»Gebt mal das Abschleppseil her«, sagte Köster zu uns.»Mensch«, erwiderte der älteste Vogt. Er war einen Kopf größer als Köster.»Tut mir leid«, sagte Köster,»aber wir werden den Wagen mitnehmen.«Lenz und ich schlenderten noch näher heran, die Hände in den Taschen. Köster bückte sich zu dem Wagen herunter. Im gleichen Moment schleuderte Vogt ihn mit einem Tritt beiseite. Otto hatte damit gerechnet; er hatte in derselben Sekunde das Bein gefaßt und Vogt umgerissen. Dann kam er hoch und schlug dem nächsten der Brüder, der gerade die Stange des Wagenhebers hob, vor den Magen, daß er taumelte und ebenfalls zu Boden ging. Im nächsten Augenblick sprangen Lenz und ich auf die beiden andern zu. Ich bekam sofort einen Schlag ins Gesicht. Es war nicht schlimm, aber meine Nase fing an zu bluten, ich verfehlte den nächsten Schlag, rutsche am fettigen Kinn des andern ab, bekam einen zweiten Hieb gegen das Auge und stürzte so unglücklich, daß mich der Vogt mit dem Magenschlag am Boden zu fassen kriegte. Er drückte mich gegen den Asphalt und umklammerte meinen Hals. Ich spannte die Muskeln an, damit er mich nicht würgen konnte, und versuchte, mich zu krümmen und herumzurollen, um ihn mit den Füßen wegzustoßen oder ihm in den Bauch zu treten. Aber Lenz und sein Vogt waren über meinen Beinen am Ringen, und ich kam nicht frei. Der Atem wurde mir schwer trotz der angespannten Halsmuskeln, weil ich durch die blutende Nase keine Luft bekam. Allmählich wurde alles glasig um mich her, das Gesicht Vogts zitterte vor meinen Augen wie Gallert, und ich spürte schwarze Schatten hinter meinem Schädel. Mit dem letzten Blick sah ich Jupp plötzlich neben mir; – er kniete im Straßengraben, verfolgte ruhig und aufmerksam mein Zucken und schlug, als in einer Sekunde der Stille alles für ihn parat schien, mit einem Hammer gegen Vogts Handgelenk. Beim zweiten Schlag ließ Vogt los und griff vom Boden aus wütend nach Jupp, der einen halben Meter zurückrutschte und ihm in aller Ruhe einen dritten saftigen Schlag auf die Finger und dann einen auf den Kopf versetzte. Ich kam hoch, rollte mich auf Vogt und begann ihm meinerseits den Hals zuzuschnüren. In diesem Augenblick erscholl ein tierisches Brüllen und dann ein Wimmern:»Loslassen – loslassen!«