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»So an tausend Kilometer. Im Mai fahren wir hinunter. Dann holt Otto uns ab.«

»Im Mai«, wiederholte sie.»Mein Gott, im Mai.«

Die Sonne versank langsam. Das Tal wurde lebendig; die Schatten, die bisher starr in den Bodenfalten gehockt hatten, begannen lautlos hervorzuhuschen und höher zu klettern wie blaue Riesenspinnen. Es wurde kühl.»Wir müssen zurück, Pat«, sagte ich.

Sie blickte auf, und ihr Gesicht war plötzlich wie zerfallen vor Schmerz. Ich sah auf einmal, daß sie alles wußte. Sie wußte, daß sie nie mehr über diese gnadenlose Bergkette am Horizont hinwegkommen würde, sie wußte es und wollte es verbergen, so wie wir es vor ihr verbergen wollten, aber einen Augenblick lang verlor sie die Fassung, und aller Jammer der Welt brach aus ihren Augen.»Laß uns noch ein Stück herunterfahren«, sagte sie.»Nur ein ganz kleines Stück abwärts.«

»Komm«, erwiderte ich, nachdem ich Köster angesehen hatte. Sie stieg zu mir hinten in den Wagen, ich bettete sie in meinen Arm und zog die Decke über uns beide. Der Wagen begann langsam bergab zu fahren, in das Tal und in die Schatten.

»Robby, Liebling«, flüsterte Pat an meiner Schulter,»jetzt ist es, als ob wir nach Hause führen, zurück in unser Leben…«

»Ja«, sagte ich und zog die Decke bis an ihr Haar.

Es wurde rasch dunkler, je tiefer wir kamen. Pat lag ganz unter den Decken. Sie schob ihre Hand auf meine Brust, unter das Hemd, ich fühlte ihre Hand auf meiner Haut, und dann ihren Atem, ihre Lippen und dann ihre Tränen.

Vorsichtig, damit sie die Kurve nicht merkte, drehte Köster auf dem Marktplatz des nächsten Dorfes den Wagen in einer langen Schleife und fuhr langsam zurück.

Die Sonne war verschwunden, als wir die Höhe wieder überfuhren, und im Osten stand schon blaß und klar zwischen aufsteigenden Wolken der Mond. Wir fuhren zurück, die Ketten malmten über den Boden mit monotonem Geräusch, es wurde sehr still, ich saß reglos und rührte mich nicht und fühlte die Tränen Pats auf meinem Herzen, als blute dort eine Wunde.

Eine Stunde später saß ich in der Halle. Pat war in ihrem Zimmer, und Köster war zur Wetterstelle gegangen, um sich zu erkundigen, ob es Schnee gäbe. Es war draußen dunstig geworden, der Mond hatte jetzt einen Hof, und weich und grau wie Samt stand der Abend vor den Fenstern. Nach einer Weile kam Antonio und setzte sich zu mir. Ein paar Tische entfernt saß eine Kanonenkugel in einem Homespunanzug mit zu kurzen Knickerbockern. Ein Säuglingsgesicht mit aufgeworfenen Lippen und kalten Augen, darüber ein runder roter Kopf ohne Haare, glänzend wie eine Billardkugel. Neben ihm eine schmale Frau mit tiefen Augenschatten und einem flehentlichen, kummervollen Ausdruck. Die Kanonenkugel war lebhaft, der Kopf war ständig in Bewegung, die rosigen Patschhände beschrieben glatte Kurven.

»Wunderbar, hier oben, ganz herrlich! Dies Panorama, diese Luft, diese Verpflegung! Hast es wirklich gut…«

»Bernhard«, sagte die Frau leise.

»Wahrhaftig, so möchte ich's auch mal haben, gehätschelt und gepflegt!«öliges Gelächter.»Na, ich gönn's dir…«

»Ach, Bernhard«, sagte die Frau mutlos.

»Was denn, was denn«, lärmte die Kanonenkugel fröhlich,»besser geht's doch gar nicht! Bist doch hier wie im Paradies! Was meinst du, was sich unten tut! Muß morgen wieder 'rein in den Schlamassel. Sei froh, daß du nichts davon merkst. Na, freut mich, gesehen zu haben, daß es dir hier gut geht.«

»Bernhard, es geht mir nicht gut«, sagte die Frau.

»Aber Kindchen«, polterte Bernhard,»nicht pimpelig werden! Was sollte unsereins da sagen! Immer im Betrieb, die Pleiten überall, die Steuern – na, man macht's ja gern.«

Die Frau schwieg.

»Rüstiger Knabe«, sagte ich zu Antonio.

»Und wie!«erwiderte er.»Seit vorgestern ist er hier und redet jeden Versuch der Frau mit seinem ›Wunderbar hast du's hier‹, nieder. Er will nichts sehen, wissen Sie – nicht ihre Angst, nicht ihre Krankheit, nicht ihre Einsamkeit. Wahrscheinlich lebt er längst mit einer zweiten Kanonenkugel in Berlin und macht hier halbjährlich seinen Pflichtbesuch, händereibend, jovial, auf seine Bequemlichkeit bedacht. Nur nichts hören! Das gibt's hier oft!«

»Wie lange ist die Frau hier?«

»Ungefähr zwei Jahre.«

Ein Trupp junger Leute lief kichernd durch die Halle.

Antonio lachte.

»Die kommen von der Post. Sie haben an Roth ein Telegramm geschickt.«

»Wer ist Roth?«

»Das ist der, der nächstens abreist. Sie haben ihm telegrafiert, er dürfe wegen einer Grippeepidemie in seiner Heimat nicht abfahren und müsse noch hierbleiben. Das sind so übliche Scherze. Weil sie selbst hierbleiben müssen, verstehen Sie?«

Ich schaute durch das Fenster auf den grauen Samt der verhangenen Berge. Das ist ja alles nicht wahr, dachte ich, das ist ja alles keine Wirklichkeit, so geht das doch nicht. Das ist doch nur eine Bühne hier, auf der ein bißchen Tod gespielt wird. Wenn man stirbt, das ist doch furchtbarer Ernst. Ich hätte den jungen Leuten nachgehen, ihnen auf die Schultern schlagen und sagen mögen:»Nicht wahr, das ist nur ein Salontod hier, und ihr seid nur lustige Sterbeamateure? Nachher wird wieder aufgestanden und sich verbeugt? So kann man doch nicht sterben, mit etwas Fieber und rauhem Atem, dazu gehören doch Schüsse und Wunden, so kenne ich es doch…«

»Sind Sie auch krank?«fragte ich Antonio.

»Natürlich«, sagte er lächelnd.

»Wirklich herrlicher Kaffee«, lärmte die Kanonenkugel nebenan,»so was gibt's bei uns überhaupt nicht. Das reine Schlaraffenland!«

Köster kam von der Wetterdienststelle zurück.»Ich muß fahren, Robby«, sagte er.»Das Barometer ist gefallen, und wahrscheinlich gibt es diese Nacht Schnee. Dann komme ich morgen nicht mehr durch. Heute abend geht's grade noch.«

»Gut. Essen wir noch zusammen?«

»Ja. Ich packe jetzt rasch.«

»Ich komme mit«, sagte ich.

Wir packten Kösters Sachen zusammen und brachten sie zur Garage hinunter. Dann gingen wir zurück, um Pat zu holen.

»Wenn irgendwas ist, rufe mich an, Robby«, sagte Otto.

Ich nickte.

»Das Geld hast du in wenigen Tagen hier. Genug für einige Zeit. Tu alles, was nötig ist.«

»Ja, Otto.«Ich zögerte.»Wir haben doch noch ein paar Ampullen Morphium zu Hause. Kannst du mir die schicken?«

Er sah mich an.»Wozu willst du sie haben?«

»Ich weiß nicht, wie das hier wird. Vielleicht ist es nicht nötig. Ich habe immer noch so eine Hoffnung, trotz allem. Immer, wenn ich sie sehe. Wenn ich allein bin, nicht. Aber ich möchte nicht, daß sie leidet, Otto. Daß sie so herumliegt und daß nichts mehr da ist als Schmerzen. Vielleicht geben sie es ihr hier dann auch so. Aber es ist mir eine Beruhigung, zu wissen, daß ich ihr helfen kann.«

»Nur das, Robby?«fragte Köster.

»Nur das, Otto. Bestimmt. Sonst würde ich es dir nicht sagen.«

Er nickte.»Wir sind nur noch zwei«, sagte er langsam.

»Ja.«

»Gut, Robby.«

Wir gingen in die Halle, und ich holte Pat herunter. Dann aßen wir rasch, denn es bezog sich immer mehr. Köster fuhr Karl aus der Garage zum Portal vor.»Mach's gut, Robby«, sagte er.

»Du auch, Otto.«

»Auf Wiedersehen, Pat.«Er gab ihr die Hand und sah sie an.»Im Frühjahr komme ich Sie holen.«

»Leben Sie wohl, Köster.«Pat hielt seine Hand fest.»Ich freue mich so, Sie noch gesehen zu haben. Grüßen Sie auch Gottfried Lenz von mir.«

»Ja«, sagte Köster.

Sie hielt immer noch seine Hand. Ihre Lippen zitterten. Und plötzlich machte sie einen Schritt vor und küßte ihn.»Leben Sie wohl«, murmelte sie mit erstickter Stimme.

Kösters Gesicht war auf einmal von einer hellroten Flamme durchflogen. Er wollte noch etwas sagen, aber er wandte sich ab, stieg in den Wagen, fuhr in einem Sprung an und jagte die Serpentinen hinunter, ohne sich umzusehen. Wir sahen ihm nach. Der Wagen donnerte die Hauptstraße entlang und zog die Kehren hinauf wie ein einsamer Leuchtkäfer, das fahle Feld der Scheinwerfer auf dem grauen Schnee vor sich. Auf der Höhe blieb er stehen, und Köster winkte. Er stand dunkel vor dem Licht. Dann verschwand er, und wir hörten noch lange das immer schwächer werdende Summen der Maschine.

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