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Köster zog mit den Absätzen seiner Schuhe Striche in den harten Schnee. Dann hob er den Kopf.»Er hat also Hoffnung?«

»Ein Arzt hat immer Hoffnung, das gehört zu seinem Beruf. Aber ich habe verdammt wenig mehr. Ich fragte ihn, ob er einen Pneumothorax gemacht hätte. Er sagte, das ginge nicht mehr. Sie hätte vor Jahren schon einen gehabt. Jetzt seien beide Lungen krank. Es ist verflucht, Otto.«

Eine alte Frau mit ausgetretenen Gummischuhen blieb vor unserer Bank stehen. Sie hatte ein blaues, eingefallenes Gesicht und erloschene, schieferfarbene Augen, die aussahen, als wären sie blind. Um den Hals hatte sie eine altmodische Federboa geschlungen. Langsam hob sie ein Lorgnon und betrachtete uns. Dann schlurfte sie weiter.

»Ekelhaftes Gespenst!«

»Was hat er sonst noch gesagt?«fragte Köster.

»Er hat mir erklärt, woher es wahrscheinlich käme. Er hätte schon viele Patienten im gleichen Alter gehabt. Es seien Folgen des Krieges. Unterernährung in den Entwicklungsjahren. Aber was geht mich das alles an? Sie soll gesund werden.«Ich sah ihn an.»Natürlich hat er mir gesagt, daß er oft genug Wunder erlebt hätte. Gerade bei dieser Krankheit käme es vor, daß sie plötzlich stehenbleibe, verkapsele und ausheile, sogar in verzweifelten Fällen. Das hat Jaffé auch gesagt. Aber ich glaube nicht an Wunder.«

Köster antwortete nicht. Wir blieben schweigend nebeneinander sitzen. Was sollten wir auch sagen? Wir hatten beide zuviel mitgemacht, als daß wir mit Trost etwas hätten anfangen können.

»Sie darf nichts merken, Robby«, sagte Köster schließlich.

»Natürlich nicht«, erwiderte ich.

Wir blieben sitzen, bis Pat kam. Ich dachte nichts; ich war nicht einmal verzweifelt, ich war ganz dumpf und grau und tot.

»Da ist sie«, sagte Köster.

»Ja«, sagte ich und stand auf.

»Hallo!«Pat kam heran und winkte. Sie taumelte etwas und lachte.»Ich bin ein bißchen betrunken. Von der Sonne.

Immer, wenn ich in der Sonne gelegen habe, schwanke ich wie ein alter Seemann.«

Ich sah sie an, und mit einem Schlage war alles anders. Ich glaubte dem Arzt nicht mehr; ich glaubte an das Wunder. Sie war da; sie lebte; sie stand da und lachte – alles andere versank davor.

»Was macht ihr denn für Gesichter?«fragte sie.

»Stadtgesichter, die gar nicht hierher passen«, sagte Köster.

»Wir können uns an die Sonne noch nicht gewöhnen.«

Sie lachte.»Ich habe heute einen guten Tag. Ohne Fieber.

Ich darf 'raus. Wollen wir ins Dorf gehen und einen Aperitif trinken?«

»Natürlich.«

»Also los!«

»Wollen wir nicht lieber einen Schlitten nehmen?«fragte Köster.

»Ich halte es schon aus«, sagte Pat.

»Das weiß ich«, sagte Köster.»Aber ich bin noch nie in so einem Ding gefahren. Ich möchte es mal versuchen.«

Wir winkten einen Kutscher heran und fuhren die Serpentinen hinab ins Dorf. Vor einem Café, das eine kleine, sonnige Terrasse hatte, hielten wir und stiegen aus. Es saßen viele Leute da, und ich erkannte einige aus dem Sanatorium. Der Italiener aus der Bar war auch dabei. Er wurde Antonio gerufen und kam an unsern Tisch, um Pat zu begrüßen. Er erzählte, daß ein paar Spaßvögel in der vergangenen Nacht einen Patienten, während er schlief, mitsamt dem Bett aus seinem Zimmer gerollt und in das Zimmer einer uralten Lehrerin geschoben hätten.

»Weshalb haben sie denn das gemacht?«fragte ich.

»Er ist geheilt und fährt in den nächsten Tagen ab«, erwiderte Antonio.»Da werden immer solche Streiche gemacht.«

»Das ist der berühmte Galgenhumor der Zurückbleibenden, Liebling«, sagte Pat.

»Hier oben wird man kindisch«, meinte Antonio entschuldigend.

Geheilt, dachte ich, einer ist geheilt und fährt zurück. -»Was willst du trinken, Pat?«fragte ich.

»Einen Martini. Einen trockenen Martini.«

Ein Radio begann zu spielen. Wiener Walzer. Sie wehten durch die warme, sonnige Luft wie leichte, helle Fahnen. Der Kellner brachte die Martinis. Sie waren sehr kalt und perlten noch, während die Sonne hineinschien.»Schön, so zu sitzen, wie?«fragte Pat.

»Herrlich«, erwiderte ich.

»Aber manchmal ist es nicht zum Aushalten«, sagte sie.

Wir blieben zum Essen unten. Pat wollte es gern. Sie hatte in der letzten Zeit immer im Sanatorium bleiben müssen, und dieses war ihr erster Ausgang; da meinte sie, sie fühle sich doppelt so gesund, wenn sie einmal im Dorf essen könne. Antonio aß mit uns. Nachher fuhren wir wieder hinauf, und Pat ging in ihr Zimmer, weil sie zwei Stunden liegen mußte. Köster und ich holten Karl aus der Garage und sahen ihn nach. Wir mußten zwei gebrochene Federblätter auswechseln. Der Garagemeister hatte Werkzeug da, und wir machten uns an die Arbeit. Dann füllten wir Öl nach und schmierten das Chassis durch. Als alles fertig war, schoben wir ihn hinaus. Dreckbespritzt, mit hängenden Ohren, stand er im Schnee.

»Wollen wir ihn waschen?«fragte ich.

»Nein, nicht unterwegs«, sagte Köster.»Das nimmt er übel.«

Pat kam hinzu. Sie sah warm und ausgeschlafen aus. Ihr Hund tobte um sie herum.»Billy!«rief ich. Er stutzte, aber er war nicht übermäßig freundlich. Er kannte mich nicht wieder und wurde ganz verlegen, als Pat ihn auf mich aufmerksam machte.»So geht's«, sagte ich.»Gottlob, daß die Menschen ein besseres Gedächtnis haben. Wo war er denn gestern?«

Pat lachte.»Er hat die ganze Zeit unterm Bett gelegen. Er ist eifersüchtig, wenn ich Besuch bekomme, und zieht sich dann ärgerlich zurück.«

»Du siehst wunderbar aus«, sagte ich.

Sie blickte mich glücklich an. Dann trat sie an Karl heran.

»Ich möchte mal wieder drinsitzen und ein kleines Stück fahren.«

»Natürlich«, sagte ich,»was, Otto?«

»Selbstverständlich. Sie haben ja einen dicken Mantel an, und hier sind noch Schals und Decken genug.«

Pat setzte sich nach vorn, hinter die Windschutzscheibe, neben Köster. Karl brüllte auf. Die Auspuffgase dampften weißblau in die kalte Luft. Der Motor war noch nicht warm. Langsam begannen die Ketten klappernd durch den Schnee zu mahlen. Karl kroch fauchend, knallend und brummend zum Dorf hinunter und die Hauptstraße entlang, ein geduckter Wolf unter dem Getrabe der Pferde und dem Glockenläuten der Schlitten.

Wir kamen aus dem Dorf heraus. Es war später Nachmittag, und die Schneefelder schimmerten rötlich, überhaucht von der tiefen Sonne. Ein paar Heuschober am Hang lagen fast begraben im Weiß. Wie schmale Kommas schwangen die letzten Skiläufer zu Tal. Sie passierten dabei die rote Sonne, die mächtig noch einmal hinter dem Hang hervorkam, ein Ball düsterer Glut.

»Seid ihr gestern hier entlanggekommen?«fragte Pat.

»Ja.«

Der Wagen gewann die Kuppe der ersten Anhöhe. Köster hielt. Die Aussicht von hier oben war überwältigend. Am Tage vorher, als wir durch den gläsernen blauen Abend hindurchklirrten, hatten wir nichts davon bemerkt. Wir hatten nur auf die Straße geachtet.

Hang hinter Hang öffnete sich ein vielfältiges Tal. Die Kanten des fernen Gebirges standen scharf und klar vor dem blaßgrünen Himmel. Sie leuchteten golden. Goldene Flecken, wie abgestäubt, lagen auch auf den Schneefeldern unterhalb der Gipfel. Die Hänge gingen von Sekunde zu Sekunde immer mehr in ein prunkvolles Weißrot über, und die Schatten wurden immer blauer. Die Sonne stand gerade in der Lücke zwischen zwei schimmernden Gipfeln, und das weite Tal mit seinen Höhen und Hängen wirkte wie eine mächtige, stumme, leuchtende Parade vor einem untergehenden Herrscher. Das violette Band der Straße schlängelte sich um die Hügel, verschwand, tauchte wieder auf, dunkel in den Kurven, an Dörfern vorbei, und lief dann gerade auf den Paßsattel am Horizont zu.

»So weit vom Dorf war ich noch nie«, sagte Pat.»Ist das die Straße nach Hause?«

»Ja.«

Sie schwieg und sah hinunter. Dann stieg sie aus und hielt die Hand schützend vor die Augen. So starrte sie nach Norden, als könne sie schon die Türme der Stadt sehen.»Wie weit ist es?«fragte sie.

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