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»Ich denke, wir lassen den Wagen hier stehen und gehen das letzte Stück zu Fuß«, sagte Köster nach einer Weile.»Ist unauffälliger.«

Wir hielten Karl unter einer Laterne vor einer Kneipe an. Eine weiße Katze huschte weg, als wir ausstiegen. Ein paar Huren mit Schürzen standen etwas weiter unter einem Torbogen und verstummten, als wir vorübergingen. In einer Hausecke lehnte ein Drehorgelspieler und schlief. Eine alte Frau wühlte in den Abfällen am Straßenrand.

Wir kamen an eine riesige, schmutzige Mietskaserne mit mehreren Hinterhäusern, Höfen und Durchgängen. Im untersten Stock befanden sich Läden, eine Bäckerei und eine Annahmestelle für Lumpen und altes Eisen. Auf der Straße vor dem ersten Durchgang standen zwei Lastwagen mit Schupos.

Im ersten Hof war in einer Ecke aus Holzlatten ein Stand aufgebaut, an dem ein paar große Sternkarten hingen. Vor einem Tisch mit Papieren stand auf einem kleinen Podium ein Mann mit einem Turban. Über seinem Kopf hing ein Schild: Astrologie, Handlesekunst, Zukunftsdeutung – Ihr Horoskop für 50 Pfennig. Ein Schwarm Menschen umdrängte ihn. Das grelle Licht einer Karbidlampe fiel auf sein gelbes, faltiges Gesicht. Er redete auf die Zuschauer ein, die schweigend zu ihm aufschauten – mit dem gleichen verlorenen, abwesenden, wundersüchtigen Blick wie vorher die Zuhörer in den Versammlungen mit den Fahnen und den Musikkapellen.

»Otto«, sagte ich zu Köster, der vor mir her ging,»jetzt weiß ich, was die Leute wollen. Sie wollen gar keine Politik. Sie wollen Religionsersatz.«

Er sah sich um.»Natürlich. Sie wollen an irgend etwas wieder glauben. An was, ist ganz egal. Deshalb sind sie auch so fanatisch.«

Wir kamen auf den zweiten Hof, an dem das Versammlungslokal lag. Alle Fenster waren erleuchtet. Plötzlich hörten wir Lärm von drinnen. Im selben Moment stürzte aus einem dunklen Seiteneingang eine Anzahl junger Leute in Windjacken, wie auf ein verabredetes Zeichen über den Hof, dicht unter den Fenstern entlang, auf die Tür des Lokals los. Der vorderste riß sie auf, und sie stürmten hinein.

»Ein Stoßtrupp«, sagte Köster.»Komm hier an die Wand hinter die Bierfässer.«

Ein Brüllen und Toben begann im Saal. In der nächsten Sekunde splitterte ein Fenster und jemand flog heraus. Gleich darauf brach die Tür auf, ein Haufen Menschen wälzte sich heraus, die ersten stürzten, die andern fielen darüber hinweg. Eine Frau schrie gellend um Hilfe und rannte durch den Torbogen hinaus. Ein zweiter Schub folgte mit Stuhlbeinen und Biergläsern, wütend ineinander verfilzt. Ein riesiger Zimmermann sprang heraus, stellte sich etwas außerhalb auf, und jedesmal, wenn er den Kopf eines Gegners vor sich sah, fegte sein langer Arm im Kreise herum und schlug ihn in das Gewühl zurück. Er machte das völlig ruhig, als ob er Holz hackte.

Ein neuer Knäuel stürzte heran, und plötzlich sahen wir, drei Meter vor uns, den gelben Schöpf Gottfrieds in den Händen eines tobenden Schnauzbartes.

Köster duckte sich und verschwand in dem Haufen. Ein paar Sekunden später ließ der Schnauzbart Gottfried los, warf mit einer Miene äußersten Erstaunens die Arme hoch und fiel wie ein entwurzelter Baum in die Menge zurück. Gleich darauf entdeckte ich Köster, der Lenz am Kragen hinter sich herschleppte.

Lenz wehrte sich.»Laß mich nur noch einen Augenblick hin, Otto«, keuchte er.

»Unsinn«, rief Köster,»die Schupo kommt sofort! Los, da hinten 'rauf.«

Wir liefen über den Hof, dem dunklen Seiteneingang zu. Es war keinen Augenblick zu früh. Im gleichen Moment schrillte jähes Pfeifen über den Hof, die schwarzen Tschakos der Schupo blitzten auf, und die Polizei riegelte den Hof ab. Wir rannten die Treppen hinauf, um nicht mit zur Wache geschleppt zu werden. Von einem Flurfenster aus sahen wir, wie es weiterging. Die Schupo arbeitete glänzend. Sie sperrte ab, trieb einen Keil in den Knäuel, riß die Haufen auseinander, löste sie auf und begann sofort abzutransportieren. Als ersten den verblüfften Zimmermann, der vergeblich etwas zu erklären suchte. Hinter uns schnappte eine Tür. Eine Frau im Hemd, mit bloßen, dünnen Beinen, eine Kerze in der Hand, steckte den Kopf heraus.»Bist du das?«fragte sie mürrisch.

»Nein«, sagte Lenz, der sich erholt hatte. Die Frau warf die Tür zu. Lenz leuchtete mit seiner Taschenlampe die Tür ab. Es war der Maurerpolier Gerhard Peschke, der hier erwartet wurde.

Unten wurde es still. Die Schupo zog ab, und der Hof wurde leer. Wir warteten noch etwas, dann gingen wir die Treppen hinunter. Hinter einer Tür weinte ein Kind. Es weinte leise und klagend im Dunkel.

Wir gingen durch den vorderen Hof. Der Astrologe stand verlassen vor seinen Sternkarten.»Ein Horoskop, die Herrschaften?«rief er.»Oder die Zukunft aus der Hand?«

»Immer los«, sagte Gottfried und hielt ihm die Hand hin.

Der Mann studierte eine Zeitlang.»Sie haben einen Herzfehler«, sagte er dann kategorisch.»Ihr Gefühl ist stark entwickelt, Ihre Verstandeslinie sehr kurz, dafür sind Sie musikalisch begabt. Sie träumen viel, aber Sie taugen nicht als Ehemann. Trotzdem sehe ich hier drei Kinder. Sie sind eine diplomatische Natur, neigen zur Verschlossenheit und werden etwa achtzig Jahre alt.«

»Stimmt«, erklärte Gottfried.»Das hat mein Fräulein Mutter auch schon immer gesagt: Wer böse ist, wird alt. Moral ist eine Erfindung der Menschen; nicht eine Konsequenz des Lebens.«

Er gab dem Mann sein Geld, und wir gingen weiter. Die Straße war leer. Eine schwarze Katze huschte vor uns her. Lenz zeigte hin.»Jetzt müßten wir eigentlich umkehren.«

»Laß man«, sagte ich,»wir haben vorhin eine weiße gesehen; das hebt sich auf.«

Wir gingen die Straße entlang. Ein paar Leute kamen uns auf der anderen Seite entgegen. Es waren vier junge Burschen. Einer trug hellgelbe, neue Ledergamaschen, die andern eine Art von Militärstiefeln. Sie blieben stehen und sahen zu uns herüber.»Da ist er!«rief plötzlich der mit den Gamaschen und lief schräg über die Straße auf uns zu. Im nächsten Augenblick krachten zwei Schüsse, der Bursche sprang weg, und alle vier rissen aus, so schnell sie konnten.

Ich sah, wie Köster zum Sprung ansetzte, aber dann in einer merkwürdigen Drehung abbog, die Arme ausstreckte, einen gepreßten, wilden Laut ausstieß und Gottfried Lenz aufzufangen versuchte, der schwer aufs Pflaster schlug.

Eine Sekunde dachte ich, er sei nur gefallen; dann sah ich das Blut. Köster riß ihm die Jacke auf, zerrte das Hemd weg – das Blut quoll dicht hervor. Ich preßte mein Taschentuch dagegen.»Bleib hier, ich hole den Wagen«, rief Köster und rannte los.

»Gottfried«, sagte ich,»hörst du mich?«

Sein Gesicht wurde grau. Die Augen waren halb geschlossen. Die Lider bewegten sich nicht. Ich hielt mit der einen Hand seinen Kopf, mit der anderen drückte ich das Taschentuch auf die blutende Stelle. Ich kniete neben ihm, ich lauschte auf sein Röcheln, seinen Atem, aber ich hörte nichts, lautlos war alles, die endlose Straße, die endlosen Häuser, die endlose Nacht – ich hörte nur leise klatschend das Blut auf das Pflaster fallen und wußte, daß das schon einmal so gewesen sein mußte und daß es nicht wahr sein konnte.

Köster raste heran. Er riß die Lehne des linken Sitzes nach hinten herum. Wir hoben Gottfried vorsichtig hoch und legten ihn auf die beiden Sitze. Ich sprang in den Wagen und Köster schoß los. Wir fuhren zur nächsten Unfallstelle. Köster bremste vorsichtig.»Sieh nach, ob ein Arzt da ist. Sonst müssen wir weiter.«

Ich lief hinein. Ein Sanitäter kam mir entgegen.»Ist ein Arzt da?«»Ja. Habt ihr jemand?«»Ja. Kommen Sie mit 'ran! Eine Tragbahre.«Wir hoben Gottfried auf die Bahre und trugen ihn hinein.

Der Arzt stand schon in Hemdsärmeln bereit.»Hierher!«Er zeigte auf einen flachen Tisch. Wir hoben die Bahre hinauf. Der Arzt zog eine Lampe herunter, dicht über den Körper.

»Was ist es?«-»Revolverschuß.«

Er nahm einen Bausch Watte, wischte das Blut fort, griff nach Gottfrieds Puls, horchte ihn ab und richtete sich auf.»Nichts mehr zu machen.«

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