»Ich geh' ja schon, Arthur. Aber jetzt ist doch nicht viel los. Abendbrotzeit.«
»Kleinvieh macht auch Mist«, erklärte Arthur.
»Ich geh' schon.«
»Na…«, Arthur tippte an die Melone.»Ich komme so um zwölf wieder vorbei.«
Er stakste mit seinen schlenkrigen Bewegungen davon. Rosa blickte ihm selig nach. Er sah sich nicht um und ließ die Tür hinter sich offen.»Kamel«, fluchte Alois und schloß die Tür.
Rosa schaute uns stolz an.»Ist er nicht fabelhaft? Den kriegt nichts weich. Wo er wohl die ganze Zeit gesteckt haben mag?«
»Das siehst du doch an der Haut«, erwiderte Wally.»In Nummer Sicher. Ein Ekel mit Eichenlaub und Schwertern!«
»Du kennst ihn nicht…«
»Hab' schon genug«, sagte Wally.
»Das verstehst du nicht.«Rosa stand auf.»Ein richtiger Mann ist das. Nicht so ein Tränenbruder. Na, dann will ich mal los. Servus, Kinder!«
Verjüngt und beschwingt schaukelte sie hinaus. Jetzt war wieder einer da, dem sie ihr Geld abliefern durfte, damit er es versoff und sie hinterher verprügelte. Sie war glücklich.
Eine halbe Stunde später gingen auch die andern. Nur Lilly blieb mit ihrem steinernen Gesicht sitzen. Ich klimperte noch etwas auf dem Klavier herum, dann aß ich ein Butterbrot und verschwand ebenfalls. Es war nicht lange auszuhalten, so allein mit Lilly.
Ich schlenderte durch die nassen, dunklen Straßen. Am Friedhof hatte sich eine Abteilung der Heilsarmee aufgestellt. Sie sang mit Posaunen und Trompeten vom himmlischen Jerusalem. Ich blieb stehen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich es nicht aushalten könnte, allein, ohne Pat. Ich starrte auf die bleich schimmernden Steine des Friedhofs, ich sagte mir, daß ich vor einem Jahr doch viel mehr allein gewesen sei, daß ich Pat damals gar nicht gekannt hatte und daß sie doch jetzt da war, wenn sie auch nicht bei mir war, aber es half alles nichts – ich war plötzlich ganz verstört und ratlos. Schließlich ging ich in mein Zimmer hinauf, um nachzusehen, ob vielleicht Post von ihr da wäre. Es war ganz unsinnig, denn es konnte noch' nichts dasein, und es war auch nichts da – aber ich ging trotzdem hinauf.
Als ich wieder fortging, traf ich Orlow an der Tür. Er trug einen Smoking unter dem offenen Mantel und wollte in sein Hotel zum Tanzdienst. Ich fragte ihn, ob er von Frau Hasse inzwischen was gehört hätte.
»Nein«, sagte er.»Sie ist noch nicht wieder dagewesen.
Auch auf der Polizei war sie nicht. Ist auch besser, wenn sie nicht wiederkommt.«
Wir gingen zusammen die Straße entlang. An der Ecke stand ein Lastauto mit Kohlensäcken. Der Chauffeur hatte die Kühlerhaube hochgeklappt und arbeitete am Motor herum. Dann kletterte er auf seinen Sitz. Gerade als wir vorüberkamen, ließ er den Motor an und gab kräftig im Leerlauf Gas. Orlow zuckte zusammen. Ich sah ihn an. Er war schneeweiß geworden.»Sind Sie krank?«fragte ich. Er lächelte mit blassen Lippen und schüttelte den Kopf.»Nein – aber ich erschrecke manchmal, wenn ich das da unvermutet höre. Als mein Vater in Rußland erschossen wurde, ließ man draußen auch den Motor eines Lastautos laufen, damit man die Schüsse nicht so hörte. – Wir hörten sie trotzdem.«
Er lächelte wieder, als müsse er sich entschuldigen.»Bei meiner Mutter machte man nicht so viele Umstände. Man erschoß sie frühmorgens in einem Keller. Mein Bruder und ich konnten dann nachts fliehen. Wir hatten noch Diamanten. Aber mein Bruder erfror unterwegs.«
»Weshalb wurden Ihre Eltern erschossen?«fragte ich.
»Mein Vater war vor dem Kriege Kommandeur eines Kosakenregiments, das einen Aufstand unterdrücken half. Er wußte, daß es so kommen würde. Er fand es, wie man so sagt, ganz in Ordnung. Meine Mutter nicht.«
»Und Sie?«
Er machte eine müde, wegwischende Bewegung.»Es ist so viel geschehen seitdem.«
»Ja«, sagte ich,»das ist es. Mehr als man verarbeiten kann.«
Wir waren vor dem Hotel angekommen, in dem er arbeitete. Eine Dame stieg gerade aus einem Buick und stürzte mit freudigem Geschrei auf ihn zu. Sie war ziemlich dick und elegant und hatte das verwaschene Gesicht einer vierzigjährigen Blondine, die nie Sorgen und Gedanken gekannt hat.»Entschuldigen Sie«, sagte Orlow mit einem kaum merkbaren Blick,»das Geschäft…«
Er verbeugte sich vor der Blondine und küßte ihr die Hand.
In der Bar waren Valentin, Köster und Ferdinand Grau, Lenz kam etwas später. Ich setzte mich zu ihnen und bestellte mir eine halbe Flasche Rum. Ich fühlte mich immer noch verdammt schlecht.
Ferdinand hockte in einer Ecke, breit und massig, mit verfallenem Gesicht und ganz klaren blauen Augen. Er hatte schon allerlei getrunken.»Na, kleiner Robby«, sagte er und schlug mir auf die Schulter,»was ist mit dir los?«
»Nichts, Ferdinand«, erwiderte ich,»das ist ja gerade das Schlimme.«
Er betrachtete mich eine Weile.»Nichts?«sagte er dann,»nichts? Das ist viel! Das Nichts ist der Spiegel, in dem man die Welt erkennt.«
»Bravo!«rief Lenz.»Unerhört originell, Ferdinand!«
»Sei du ruhig, Gottfried.«Ferdinand wandte ihm seinen mächtigen Schädel zu.»Ein Romantiker wie du ist nur ein pathetischer Hopser am Rande des Lebens. Er versteht es immer falsch und macht sich daraus seine Sensationen. Was weißt du vom Nichts, du Leichtgewicht?«
»Genug, um ein Leichtgewicht bleiben zu wollen«, erklärte Lenz.
»Anständige Menschen haben Respekt vor dem Nichts, Ferdinand. Sie wühlen nicht darin herum wie ein Maulwurf.«
Grau starrte ihn an.»Prost«, sagte Gottfried.
»Prost«, sagte Ferdinand.»Prost, du Kork!«
Sie tranken ihre Gläser leer.»Ich möchte ganz gern ein Kork sein«, sagte ich und trank mein Glas ebenfalls aus.»So einer, der alles richtig macht und dem alles gelingt. Wenigstens eine Zeitlang mal.«
»Apostata!«Ferdinand warf sich in seinen Sessel zurück, daß er krachte.»Willst du zum Deserteur werden? Die Brüderschaft verraten?«
»Nein«, sagte ich,»ich will nichts verraten. Aber ich wollte, es ginge uns nicht immer alles in die Brüche.«
Ferdinand beugte sich vor. Sein großes, wildes Gesicht zuckte.»Dafür gehörst du einem Orden an, Bruder – dem Orden der Erfolglosen, Untüchtigen, mit ihren Wünschen ohne Ziel, ihrer Sehnsucht, die nichts einbringt, ihrer Liebe ohne Zukunft, ihrer Verzweiflung ohne Vernunft.«Er lächelte.»Der geheimen Brüderschaft, die lieber verkommt, als daß sie Karriere macht, die das Leben lieber verspielt, zerbröckelt, verliert, als daß sie das unerreichbare Bild betriebsam verfälscht oder vergißt – das Bild, Bruder, das sie im Herzen trägt, unverlöschlich eingegraben in den Stunden und Tagen und Nächten, wo es nichts gab als das eine: das nackte Leben und das nackte Sterben.«
Er hob sein Glas und winkte Fred an der Bar.»Gib mir zu trinken.«
Fred brachte die Flasche.»Soll ich noch etwas Grammophon spielen?«fragte er.
»Nein«, sagte Lenz.»Wirf dein Grammophon 'raus und bring größere Gläser. Und dann mach die Hälfte von dem Licht aus, stell ein paar Flaschen her und verschwinde in deinem Büro nebenan.«
Fred nickte und knipste die Deckenbeleuchtung aus. Nur noch die kleinen Lampen mit den Pergamentschirmen aus alten Landkarten brannten. Lenz füllte die Gläser.»Prost, Kinder! Weil wir leben! Weil wir atmen! Weil wir das Leben so stark empfinden, daß wir nichts mehr damit anzufangen wissen!«
»So ist es«, sagte Ferdinand.»Nur der Unglückliche kennt das Glück. Der Glückliche ist ein Mannequin des Lebensgefühls. Er führt es nur vor; er besitzt es nicht. Licht leuchtet nicht im Licht; es leuchtet im Dunkel. Prost auf das Dunkel! Wer einmal im Gewitter gewesen ist, kann mit einer Elektrisiermaschine nichts mehr anfangen. Verflucht sei das Gewitter! Gesegnet sei unser bißchen Leben! Und weil wir es lieben, wollen wir es nicht auf Zinsen legen! Wir wollen es kaputtmachen! Trinkt, Kinder! Es gibt Sterne, die jede Nacht noch leuchten, obwohl sie schon vor zehntausend Lichtjahren zerplatzt sind! Trinkt, solange es noch Zeit ist! Es lebe das Unglück! Es lebe das Dunkel!«