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Jaffés Gesicht war plötzlich müde.»Ich weiß nicht, ob es richtig war«, sagte er,»aber es hätte keinen Zweck gehabt, Sie mit Worten zu beruhigen. Sie hätten mir nicht geglaubt. Sie haben jetzt gesehen, daß viele dieser Menschen schlimmer krank sind als Pat Hollmann. Manche von ihnen haben nichts mehr als ihre Hoffnung. Aber die meisten kommen durch. Werden wieder gesund. Das wollte ich Ihnen zeigen.«

Ich nickte.»Es war richtig«, sagte ich.

»Vor neun Jahren starb meine Frau. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt. Nie krank gewesen. Grippe.«Er schwieg einen Augenblick.»Sie verstehen, weshalb ich Ihnen das sage?«

Ich nickte wieder.

»Man kann nichts voraus wissen. Der Todkranke kann den Gesunden überleben. Das Leben ist eine sonderbare Angelegenheit.«Sein Gesicht war jetzt sehr faltig. Eine Schwester kam und flüsterte ihm etwas zu. Er reckte sich auf und nickte zum Operationssaal hinüber.

»Ich muß jetzt da hinein. Zeigen Sie Pat nicht, wenn Sie Sorge haben. Das ist das wichtigste. Können Sie das?«

»Ja«, sagte ich.

Er gab mir die Hand und ging rasch mit der Schwester durch die Glastür in den kalkweiß erleuchteten Saal.

Ich stieg langsam die vielen Treppen hinunter. Je tiefer ich kam, desto dunkler wurde es, und im ersten Stock brannte schon das elektrische Licht. Als ich dann auf die Straße trat, sah ich, wie vom Horizont her noch einmal die rosafarbene Dämmerung wie unter einem tiefen Atemzug aufwehte. Gleich darauf erlosch sie und wurde grau.

Ich blieb eine Zeitlang im Wagen sitzen und starrte vor mich hin. Dann nahm ich mich zusammen und fuhr zurück zur Werkstatt. Köster wartete auf mich vor dem Tor. Ich fuhr den Wagen in den Hof und stieg aus.»Wußtest du es schon?«fragte ich.

»Ja«, erwiderte er.»Aber Jaffé wollte es dir selber sagen.«

Ich nickte.

Köster sah mich an.

»Otto«, sagte ich,»ich bin kein Kind und weiß, daß noch nichts verloren ist. Aber es wird mir vielleicht doch schwer werden, mich heute abend nicht zu verraten, wenn ich mit Pat allein bleibe. Morgen geht es. Dann bin ich durch. Wollen wir heute alle zusammen irgendwohin gehen?«

»Selbstverständlich, Robby. Ich habe schon daran gedacht und Gottfried Bescheid gesagt.«

»Dann gib mir Karl noch einmal. Ich fahre nach Hause und hole erst Pat ab, und dann, in einer Stunde, euch.«

»Gut.«

Ich fuhr los. In der Nikolaistraße fiel mir ein, daß ich den Hund vergessen hatte. Ich drehte um und fuhr zurück, um ihn zu holen. Der Laden war nicht beleuchtet, aber die Tür offen. Anton saß hinten im Laden auf einem Feldbett. Er hatte eine Flasche in der Hand.»Angeschissen hat Gustav mich«, sagte er und stank wie eine ganze Schnapsbrennerei.

Der Terrier sprang mir entgegen, beschnupperte mich und leckte mir die Hand. Seine Augen schimmerten grün im schrägen Schein, der von der Straße hereinfiel. Anton stand auf. Er schwankte und weinte plötzlich.»Mein Hündchen, jetzt gehst du auch weg – alles geht weg – Thilde tot – Minna weg – sagen Sie mal, wozu lebt unsereins eigentlich?«

Das hatte mir noch gefehlt! Die kleine, trostlose, elektrische Birne, die er jetzt anknipste, das leise Rascheln der Schildkröten und der Vögel, und der kleine, gedunsene Mann in diesem Laden.»Die Dicken, die wissen ja – aber sagen Sie mal, wozu lebt unsereins überhaupt? Wozu leben wir Jammerpinscher, Herr?«Der Affe stieß einen Klagelaut aus und sprang wie ein Rasender auf seiner Stange hin und her. Sein Schatten sprang groß auf der Wand mit.»Koko«, schluchzte der kleine Mann, der allein in der Dunkelheit gesessen und getrunken hatte,»mein Einziger, komm!«Er hielt ihm die Flasche hin. Der Affe griff danach.

»Sie machen das Tier kaputt, wenn Sie ihm zu saufen geben«, sagte ich.

»Wennschon«, lallte er.»Paar Jahre länger an der Kette oder nicht – ist doch alles egal – alles egal – Herr…«

Ich nahm den Hund, der sich warm an mich drängte, und ging. Geschmeidig, mit langen, weichen Bewegungen, lief er neben mir her zum Wagen.

Ich fuhr nach Hause und ging vorsichtig, den Hund an der Leine, hinauf. Auf dem Korridor blieb ich stehen und schaute in den Spiegel. Mein Gesicht war wie sonst. Ich klopfte an Pats Tür, öffnete sie ein wenig und ließ den Hund hinein.

Ich blieb draußen stehen, hielt die Leine fest und wartete. Aber statt Pats Stimme hörte ich unvermutet den Baß Frau Zalewskis.»Gott im Himmel.«

Aufatmend sah ich hinein. Ich hatte nur Angst vor der ersten Minute mit Pat allein gehabt. Jetzt war alles leicht. Frau Zalewski war ein Prellbock, auf den man sich verlassen konnte. Sie thronte majestätisch am Tisch, eine Tasse Kaffee neben sich und ein Spiel Karten in mystischer Ordnung vor sich ausgebreitet. Pat hockte mit glänzenden Augen an ihrer Seite und ließ sich die Zukunft weissagen.»Guten Abend«, sagte ich, plötzlich sehr froh.

»Da kommt er«, erklärte Frau Zalewski würdig.»Über den kurzen Weg in der Abendstunde, neben sich einen schwarzen Herrn auf der Spitze des Hauses.«

Der Hund riß sich los und schoß bellend zwischen meinen Beinen hindurch ins Zimmer.

»Mein Gott!«rief Pat.»Das ist ja ein Irischer Terrier!«

»Alle Achtung!«sagte ich.»Vor ein paar Stunden habe ich das noch nicht gewußt.«

Sie beugte sich hinunter, und der Hund sprang stürmisch an ihr hoch.

»Wie heißt er denn, Robby?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich Kognak oder Whisky oder so, nach seinem letzten Besitzer.«

»Gehört er uns?«

»Soweit ein lebendiges Wesen einem andern gehören kann, ja.«

Sie war ganz atemlos vor Freude.

»Wir werden ihn Billy nennen, Robby! Meine Mutter hatte einen als Mädchen. Sie hat mir oft davon erzählt. Er hieß auch Billy!«

»Dann habe ich es ja gut getroffen«, sagte ich.

»Ist er stubenrein?«fragte Frau Zalewski.

»Er hat einen Stammbaum wie ein Fürst«, erwiderte ich.»Und Fürsten sind stubenrein.«

»Wenn sie klein sind, nicht. Wie alt ist er denn?«

»Acht Monate. Das ist soviel wie beim Menschen sechzehn Jahre.«

»Er sieht nicht stubenrein aus«, erklärte Frau Zalewski.

»Er muß mal gewaschen werden, das ist alles.«

Pat stand auf und legte ihren Arm um Frau Zalewskis Schultern. Ich sah ihr perplex zu.

»Ich habe mir immer schon einen Hund gewünscht«, sagte sie.»Wir können ihn doch behalten, nicht wahr? Sie haben doch nichts dagegen?«

Mutter Zalewski wurde zum erstenmal, seit ich sie kannte, verlegen.

»Na also – meinetwegen«, erwiderte sie.»Es stand ja auch in den Karten. Eine Überraschung über einen Herrn ins Haus.«

»Stand auch drin, daß wir heute abend ausgehen?«fragte ich.

Pat lachte.»Soweit waren wir noch nicht, Robby. Wir waren erst bei dir.«

Frau Zalewski erhob sich und raffte ihre Karten zusammen.»Man kann dran glauben, man kann nicht dran glauben, und man kann verkehrt dran glauben, wie Zalewski. Dem stand Pik Neun als Unheilsbote immer über dem flüssigen Element. Er meinte deshalb, er müßte sich vor dem Wasser in acht nehmen. Aber es war der Schnaps und das Pilsener Bier.«

»Pat«, sagte ich, als sie fort war, und nahm sie fest in die Arme,»es ist wunderbar, nach Hause zu kommen und dich hier zu finden. Es ist immer wieder eine Überraschung für mich. Wenn ich das letzte Stück der Treppe emporsteige und die Tür aufschließe, habe ich stets Herzklopfen, daß es nicht wahr sein könnte.«

Sie blickte mich lächelnd an. Sie antwortete fast nie, wenn ich ihr so etwas sagte. Ich hätte es mir auch nicht vorstellen können und es schlecht ertragen, wenn sie mir vielleicht etwas Ähnliches erwidert hätte – ich fand, daß eine Frau einem Mann nicht sagen sollte, daß sie ihn liebte. Sie bekam nur strahlende, glückliche Augen, und damit sagte sie mehr als mit noch so vielen Worten.

Ich hielt sie lange fest, ich spürte die Wärme ihrer Haut und den leichten Duft ihres Haares – ich hielt sie fest, und es war nichts mehr da außer ihr, die Dunkelheit wich zurück, sie war da, sie lebte, sie atmete, und nichts war verloren.

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