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Ich blickte noch immer auf die Sechsecke. Sie verschwammen und begannen zu tanzen.»Wann muß sie fort?«fragte ich.

»Im Herbst. Spätestens Ende Oktober.«

»Es war also keine vorübergehende Blutung?«

»Nein.«

Ich hob die Augen.»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen«, fuhr Jaffé fort,»daß diese Krankheit ganz unberechenbar ist. Vor einem Jahr schien sie zu stehen, die Verkapselung war eingetreten, und es war anzunehmen, daß sie geschlossen blieb. Ebenso, wie sie jetzt wieder aufgebrochen ist, kann sie überraschend wieder zum Stillstand kommen. Ich sage das nicht so daher – es ist wirklich so. Ich selbst habe merkwürdige Heilungen erlebt.«

»Verschlimmerungen auch?«

Er sah mich an.»Das auch, natürlich.«

Er begann mir die Einzelheiten zu erklären. Beide Lungenflügel waren angegriffen, der rechte weniger, der linke stärker. Dann unterbrach er sich und klingelte nach der Schwester.

»Holen Sie einmal meine Mappe.«

Die Schwester brachte sie. Jaffé nahm zwei große Fotografien heraus. Er zog die knisternden Umschläge herab und hielt sie gegen das Fenster.»So sehen Sie es besser. Hier haben wir die Röntgenbilder.«

Ich sah die Wirbel eines Rückens auf der durchscheinenden grauen Platte, die Schulterblätter, die Schlüsselbeine, die Gelenkpfannen der Oberarme und die flachen Bogen der Rippen. Aber ich sah mehr als das – ich sah ein Skelett. Dunkel und gespenstisch hob es sich von den fahlen, ineinander verfließenden Schatten der Aufnahme ab. Ich sah das Skelett von Pat. Das Skelett von Pat.

Jaffé zeichnete mit der Pinzette einzelne Linien und Verfärbungen auf der Platte nach und erklärte sie. Er merkte nicht, daß ich gar nicht mehr hinblickte. Die Gründlichkeit des Wissenschaftlers war über ihn gekommen. Schließlich wandte er sich mir zu.»Haben Sie es verstanden?«

»Ja«, sagte ich.

»Was ist denn?«fragte er.

»Nichts«, erwiderte ich.»Ich kann das nur nicht gut sehen.«

»Ach so.«Er rückte an seiner Brille. Dann schob er die Fotografien wieder in die Hüllen zurück und musterte mich forschend.»Machen Sie sich keine unnützen Gedanken.«

»Das tue ich nicht. Aber es ist ein gottverdammtes Elend! Millionen Menschen sind gesund! Warum dieser eine nicht?«

Jaffé schwieg eine Weile.

»Darauf kann niemand eine Antwort geben«, sagte er dann.

»Ja«, erwiderte ich, plötzlich furchtbar erbittert und ganz taub vor Wut,»darauf kann niemand eine Antwort geben! Natürlich nicht! Auf das Elend und das Sterben kann niemand eine Antwort geben! Verflucht! Nicht einmal tun kann man etwas dagegen!«

Jaffé sah mich lange an.»Entschuldigen Sie«, sagte ich.»Aber ich kann mir nichts vormachen. Das ist das Verfluchte.«

Er sah mich immer noch an.»Haben Sie etwas Zeit?«fragte er.

»Ja«, sagte ich.»Genug.«

Er stand auf.»Ich muß jetzt meine Abendvisite machen. Ich möchte, daß Sie mitkommen. Die Schwester wird Ihnen einen weißen Mantel geben. Für die Patienten gelten Sie dann als mein Assistent.«

Ich wußte nicht, was er wollte; aber ich nahm den Mantel, den die Schwester mir hinhielt.

Wir gingen die langen Korridore entlang. Durch die breiten Fenster fiel rosig der Schein des Abends. Es war ein weiches, gedämpftes, ganz unwirklich schwebendes Licht. Ein paar Fenster standen offen. Der Geruch von blühenden Linden wehte herein.

Jaffé öffnete eine Tür. Stickiger, fauler Geruch schlug uns entgegen. Eine Frau mit wunderbarem Haar in der Farbe von altem Gold, auf dem das Licht in hellen Reflexen schimmerte, hob matt die Hand. Die Stirn war edel und schmal an den Schläfen. Unter den Augen aber begann ein Verband. Er reichte bis zum Munde. Jaffé löste ihn vorsichtig. Ich sah, daß die Frau keine Nase mehr hatte. Sie hatte an ihrer Stelle eine krustige, schmierige rote Wunde mit zwei Löchern darin. Jaffé legte den Verband wieder darüber.

»Gut«, sagte er freundlich und wendete sich zum Gehen.

Er schloß die Tür hinter sich. Ich blieb einen Augenblick draußen stehen und sah in das weiche Licht des Abends.

»Kommen Sie!«sagte Jaffé und ging mir voran in das nächste Zimmer. Das heiße Rasseln und Keuchen eines schwer Fiebernden drang uns entgegen. Es war ein Mann mit bleifarbenem Gesicht, in dem sonderbar grelle rote Flecken standen. Der Mund war aufgerissen, die Augen quollen hervor, und die Hände fuhren ruhelos auf der Decke hin und her. Der Mann war bewußtlos. Die Fiebertafel zeigte durchgehend vierzig Grad. Eine Schwester saß am Bett und las. Sie legte das Buch weg und stand auf, als Jaffé hereintrat. Er blickte auf die Tafel und schüttelte den Kopf.»Doppelte Lungenentzündung und Rippenfellentzündung. Wehrt sich seit einer Woche wie ein Stier. Rückfall. War schon fast gesund. Zu früh gearbeitet. Frau und vier Kinder. Aussichtslos.«Er horchte die Brust ab und prüfte den Puls. Die Schwester half ihm. Dabei fiel ihr Buch zur Erde. Ich hob es auf und sah, daß es ein Kochbuch war. Der Mann im Bett kratzte unaufhörlich mit den spinnenartigen Händen über die Decke. Es war der einzige Laut im Zimmer.»Bleiben Sie die Nacht hier, Schwester«, sagte Jaffé. Wir gingen hinaus. Die rosige Dämmerung draußen war farbiger geworden. Sie erfüllte den Korridor jetzt wie eine Wolke.

»Verdammtes Licht«, sagte ich.

»Warum?«fragte Jaffé.

»Es geht nicht zusammen. Das eine und das andere.«

»Doch«, sagte Jaffé.»Es geht zusammen.«

Im nächsten Zimmer lag eine röchelnde Frau. Sie war nachmittags mit einer schweren Veronalvergiftung eingeliefert worden. Der Mann war am Tage vorher verunglückt. Er hatte sich die Wirbelsäule gebrochen und war der Frau schreiend bei vollem Bewußtsein ins Haus gebracht worden. Dort war er nachts gestorben.

»Kommt sie durch?«fragte ich.

»Wahrscheinlich.«

»Wozu?«

»Ich hatte in den letzten Jahren fünf ähnliche Fälle«, sagte Jaffé.»Nur eine hat zum zweitenmal versucht, ein Ende zu machen. Mit Gas. Sie ist gestorben. Von den andern sind zwei wieder verheiratet.«

Im nächsten Zimmer lag ein Mann, der seit zwölf Jahren gelähmt war. Er hatte eine wächserne Haut, einen dünnen schwarzen Bart und sehr große, stille Augen.»Wie geht es?«fragte Jaffé.

Der Mann machte eine unbestimmte Bewegung. Dann zeigte er auf das Fenster.»Sehen Sie den Himmel! Es wird Regen geben, ich spüre es.«Er lächelte.»Man schläft besser, wenn es regnet.«Vor ihm auf der Bettdecke stand ein ledernes Schachspiel mit feststeckbaren Figuren. Ein Haufen Zeitungen und ein paar Bücher lagen daneben.

Wir gingen weiter. Ich sah eine junge Frau mit entsetzten Augen und blauen Lippen, vollkommen zerrissen von einer schweren Geburt – ein verkrüppeltes Kind mit verdrehten, schwachen Beinen und einem Wasserkopf – einen Mann ohne Magen – eine eulenhafte Greisin, die weinte, weil ihre Angehörigen sich nicht um sie kümmerten; sie starb ihnen zu langsam – eine Blinde, die glaubte, daß sie wieder sehen würde – syphilitisches Kind mit blutigem Ausschlag, und den Vater, der an seinem Bette saß – eine Frau, der am Morgen die zweite Brust abgenommen worden war – eine andere, krumm gezogen von Gelenkrheumatismus – eine dritte, der die Eierstöcke herausgeschnitten waren – einen Arbeiter mit zerquetschten Nieren – Zimmer um Zimmer ging es weiter, Zimmer um Zimmer war es dasselbe – stöhnende, verkrampfte Körper, regungslose, fast erloschene Gestalten, ein Knäuel, eine endlos scheinende Reihe von Jammer, Angst, Ergebung, Schmerz, Verzweiflung, Hoffnung, Not -; und jedesmal, wenn eine Tür sich geschlossen hatte, stand auf dem Korridor dann plötzlich wieder das rosige Licht des unirdischen Abends, immer wieder nach dem Grauen der Zimmerzellen diese zärtliche Wolke aus weichem graugoldenem Glanz, von der man nicht sagen konnte, ob sie wie ein fürchterlicher Hohn wirkte oder wie ein übermenschlicher Trost. Vor dem Eingang zum Operationssaal blieb Jaffé stehen. Scharfes Licht drang durch die Mattglasscheiben der Tür. Zwei Krankenschwestern fuhren einen flachen Wagen herein. Eine Frau lag darauf. Ich begegnete ihrem Blick. Sie sah mich gar nicht an. Sie sah irgendwohin, in eine unbestimmte Ferne. Aber ich zuckte zusammen vor diesen Augen, so viel Tapferkeit und Fassung und Ruhe war darin.

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