Ich lehnte mich an eine Hauswand und starrte vor mich hin. Ich begriff nicht, weshalb ich das alles getan hatte. Ich war da in etwas hineingeraten, das mich durcheinanderriß, das mich unvernünftig und ungerecht machte, das mich hin und her warf und mir zerschlug, was ich mühsam geordnet hatte. Ziemlich hilflos stand ich da und wußte nicht, was ich tun sollte. Nach Hause wollte ich nicht – dann wurde es ganz schlimm. Schließlich erinnerte ich mich, daß Alfons noch offen haben mußte. Ich ging hin. Ich wollte da bleiben bis zum Morgen.
Alfons sagte nicht viel, als ich kam. Er sah mich kurz an und las seine Zeitung weiter. Ich setzte mich an einen Tisch und döste. Es war niemand sonst da. Ich dachte an Pat. Immer wieder an Pat. Ich dachte daran, wie ich mich benommen hatte. Jede Einzelheit fiel mir auf einmal ein. Alles drehte sich gegen mich. Ich allein war schuld. Ich war verrückt gewesen. Ich starrte auf den Tisch. Das Blut toste in meinem Schädel. Ich war erbittert und wütend auf mich und ganz ratlos. Ich war es, ich allein, der alles kaputtmachte.
Es klirrte und knackte plötzlich. Ich hatte mit aller Kraft mein Glas zerschlagen.»Auch 'ne Unterhaltung«, sagte Alfons und stand auf.
Er zog mir die Splitter aus der Hand.»Tut mir leid«, sagte ich.»Habe es im Moment nicht überlegt.«
Er holte Watte und Heftpflaster.»Geh ins Puff«, sagte er,»das ist besser.«
»Schön«, erwiderte ich.»Ist schon vorbei. War nur so ein Wutanfall.«
»Wut muß man wegamüsieren, nicht wegärgern«, erklärte Alfons.
»Stimmt«, sagte ich,»aber können muß man's, auch.«
»Alles Training. Ihr wollt bloß alle mit dem Kopp durch die Wand. Gibt sich aber mit den Jahren.«
Er legte das»Miserere«aus dem»Troubadour«auf das Grammophon. Es wurde schnell hell.
Ich ging nach Hause. Alfons hatte mir noch ein großes Glas Fernet-Branca zu trinken gegeben. Ich merkte, daß jetzt weiche Beile hinter meiner Stirn klopften. Die Straße war nicht mehr glatt. In meinen Schultern saß Blei. Ich hatte genug.
Langsam ging ich die Treppe hinauf und suchte in der Tasche nach meinem Schlüssel. Da hörte ich im Halbdunkel jemand atmen. Etwas Bleiches, Undeutliches hockte auf der oberen Treppenstufe. Ich machte zwei Schritte.»Pat -«, sagte ich verständnislos -»Pat – was machst du denn hier?«
Sie bewegte sich.»Ich glaube, ich habe etwas geschlafen…«
»Ja aber, wie kommst du denn hierher?«
»Ich habe doch deinen Hausschlüssel…«
»Das meine ich nicht. Ich meine…«Die Trunkenheit wich, ich sah die abgetretenen Stufen der Treppe, die abgeblätterte Wand und das silberne Kleid, die schmalen, leuchtenden Schuhe -»ich meine, daß du überhaupt hier bist…«
»Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit…«
Sie stand auf und dehnte sich, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, daß sie in der späten Nacht hier auf der Treppe gesessen hatte. Dann schnupperte sie.»Lenz würde jetzt sagen – Kognak, Rum, Kirsch, Absinth…«
»Sogar Fernet-Branca«, bekannte ich und faßte erst jetzt alles richtig.
»Gottverdammt, du bist ein großartiges Mädchen, Pat, und ich bin ein scheußlicher Idiot!«
Ich nahm sie mit einem Ruck hoch, schloß die Tür auf und trug sie durch den Korridor. Sie lag an meiner Brust, ein silberner Reiher, ein müder Vogel, ich wandte den Kopf zur Seite, damit sie meinen Schnapsatem nicht spürte, und ich fühlte, daß sie zitterte, obwohl sie lächelte.
Ich setzte sie in einen Sessel, machte Licht und holte eine Decke.
»Hätte ich doch nur eine Ahnung gehabt, Pat – statt herumzulungern und herumzusitzen, hätte ich – ach, ich elender Schafskopf – angerufen habe ich von Alfons aus bei dir, und gepfiffen vor deinem Hause – und ich dachte, du wolltest nicht, weil du dich nicht meldetest…«
»Weshalb bist du denn nicht zurückgekommen, als du mich nach Hause gebracht hast?«
»Ja, das möchte ich auch wissen…«
»Es ist besser, wenn du mir nächstens den Wohnungsschlüssel auch noch gibst«, sagte sie,»dann brauche ich nicht draußen zu warten.«
Sie lächelte, aber ihre Lippen zitterten, und ich wußte plötzlich, was das für sie war – dies Zurückkommen, dies Warten und dieser tapfere, burschikose Ton jetzt…
»Pat«, sagte ich rasch, völlig verwirrt,»Pat, du frierst sicher, du mußt was trinken, ich habe bei dem Orlow draußen Licht gesehen, ich gehe rasch mal hin, diese Russen haben immer Tee, ich bin sofort zurück -«, ich spürte, wie es heiß in mir hochstieg -»ich vergesse dir das im Leben nicht«, sagte ich von der Tür her und ging rasch den Korridor hinunter.
Orlow war noch auf. Er saß vor seinem Muttergottesbild in der Ecke des Zimmers, vor dem ein Lämpchen brannte, seine Augen waren rot, und auf dem Tisch dampfte ein kleiner Samowar.
»Bitte, entschuldigen Sie«, sagte ich,»ein unvorhergesehener Zufall – können Sie mir etwas heißen Tee geben?«
Russen sind an Zufälle gewöhnt. Er gab mir zwei Gläser, Zucker und füllte einen Teller mit kleinen Kuchen.»Ich bin Ihnen sehr gern behilflich«, sagte er,»darf ich Ihnen auch – ich war oft in ähnlicher – ein paar Kaffeebohnen – zum Kauen…«
»Danke«, sagte ich,»wirklich, ich danke Ihnen. Ich nehme sie gern…«
»Wenn Sie noch etwas brauchen«, sagte er und war in diesem Augenblick von einer wunderschönen Haltung,»ich bleibe noch eine Zeitlang auf; es wird mir eine Freude sein…«
Ich zermalmte die Kaffeebohnen auf dem Korridor im Munde. Sie nahmen den Schnapsgeruch weg. Pat saß neben der Lampe und puderte sich. Ich blieb einen Augenblick an der Tür stehen. Es rührte mich sehr, daß sie so dasaß und aufmerksam in ihren kleinen Spiegel sah und mit der Puderquaste über die Schläfen wischte.
»Trink ein bißchen Tee«, sagte ich,»er ist ganz heiß.«
Sie nahm die Tasse. Ich sah zu, wie sie trank.»Weiß der Teufel, was heute abend los war, Pat.«
»Ich weiß es schon«, erwiderte sie.
»So? Ich nicht.«
»Ist auch nicht nötig, Robby. Du weißt sowieso schon ein bißchen zuviel, um richtig glücklich zu sein.«
»Mag sein«, sagte ich.»Aber es geht doch nicht, daß ich immer kindischer werde, seit ich dich kenne.«
»Doch! Besser, als wenn du immer vernünftiger würdest.«
»Auch eine Begründung«, sagte ich.»Du hast eine gute Art, einem aus der Klemme zu helfen. Aber ich glaube, es kam da so allerhand zusammen.«
Sie stellte die Tasse auf den Tisch. Ich lehnte am Bett. Ich hatte ein Gefühl, als wenn ich von einer langen, schwierigen Reise nach Hause gekommen wäre.
Die Vögel begannen zu zwitschern. Draußen klappte eine Tür. Das war Frau Bender, die Säuglingsschwester. Ich sah auf die Uhr. In einer halben Stunde war Frida in der Küche, dann konnten wir nicht mehr ungesehen hinaus. Pat schlief noch. Sie atmete tief und regelmäßig. Es war eine Schande, sie zu wecken. Aber es mußte sein.»Pat…«
Sie murmelte etwas im Schlaf.»Pat -«, ich verfluchte alle möblierten Zimmer der Welt -»Pat, es wird Zeit. Wir müssen dich anziehen.«
Sie schlug die Augen auf und lächelte, noch ganz warm vom Schlaf, wie ein Kind. Ich war immer wieder überrascht über diese Heiterkeit beim Erwachen und liebte das sehr an ihr. Ich war nie heiter, wenn ich erwachte.»Pat – Frau Zalewski bürstet bereits ihr Gebiß.«
»Ich bleibe heute bei dir…«
»Hier?«
»Ja…«
Ich richtete mich auf.»Glänzende Idee – aber deine Sachen – das sind doch Schuhe und Kleider für abends…«»Dann bleibe ich eben bis abends…«»Und zu Hause?«»Da telefonieren wir, daß ich irgendwo über Nacht geblieben bin.«»Das werden wir schon machen. Hast du Hunger?«»Noch nicht.«»Auf alle Fälle werde ich mal rasch ein paar frische Brötchen klauen. Die hängen draußen an der Korridortür. Jetzt ist's grade noch Zeit dafür.«
Als ich zurückkam, stand Pat am Fenster. Sie trug nur ihre silbernen Schuhe. Das weiche Licht des frühen Tages fiel wie ein Schleier über ihre Schultern.»Das von gestern haben wir vergessen, was, Pat?«sagte ich.