Wieder stieg die Empörung in ihm auf, daß er ausgerechnet jetzt, da man ihn hier so dringend brauchte, mit einem Konvoi weit weg geschickt wurde. Aber hätte er seinen ersten Auftrag als Kommodore abgelehnt, hätte weder sein guter Ruf noch die Freundschaft mit Bolitho, ja nicht einmal ein Adelstitel seine Karriere retten können. In solchen Dingen besaß die Marine ein Elefantengedächtnis.
Deshalb erläuterte er nur:»Dieser Auftrag ist zwar lästig, aber völlig ungefährlich, und ich werde früher, als ihr beide damit rechnet, wieder daheim ein Plymouth sein. «Das war nicht einmal ganz unwahr und ging ihm leichter über die Zunge, als er befürchtet hatte.
Belinda legte ihm die Hand auf den Arm.»Und die Schiffe des Konvois sammeln sich hier?»
«Aye. Zwei kommen aus Bristol und die anderen von den Downs.«[12]
Sie nickte nachdrücklich, und ihre Augen glänzten.»Dann werde ich mich auf einem davon einschiffen. Ich habe Freunde in Gibraltar. Mit guten Beziehungen und etwas Geld kann ich mir vielleicht Gewißheit über Richards Schicksal verschaffen.»
Herrick wollte schon protestieren, klappte den Mund aber schnell wieder zu, als er einen Blick seiner Frau auffing, die leise den Kopf schüttelte. Und es stimmte ja, über gefallene oder vermißte Offiziere hatte man auf Umwegen in Spanien oder Portugal oft viel mehr erfahren als über die offiziellen Kanäle. Aber Belindas Eifer, ihre feste Überzeugung, daß Richard Bolitho noch lebte, machten sie so viel verwundbarer, wenn das Schlimmste geschah. Wer sollte ihr dann helfen?
«Das eine ist ein Indienfahrer, die Duchess of Cornwall. Wie ich hörte, besaßen Sie gute Beziehungen zur Ostindischen Handelskompanie. Bestimmt wird man, soweit möglich, für Ihre Bequemlichkeit an Bord sorgen. Auf alle Fälle verständige ich den
Kapitän brieflich. «Er lächelte gezwungen.»Kommodore zu sein, muß doch wenigstens einen Vorteil haben.»
«Danke«, sagte sie ernst.»Sie sind sehr gut zu mir. Ich wollte nur, ich könnte auf Ihrem Schiff reisen.»
Herrick vermochte nicht zu verhindern, daß ihm darob die Röte ins Gesicht stieg.»Gütiger Himmel, Ma'am, wenn ich Sie unter diesen Grobianen und Galgenvögeln wüßte, könnte ich in meiner Koje kein Auge zutun!«Wieder warf sie ihr Haar zurück. Kein Wunder, dachte Herrik, daß Bolitho von ihr so völlig behext war.»Na ja, wenigstens werde ich Ihr Schiff jeden Tag sehen, Thomas. Dann fühle ich mich bestimmt nicht so allein.»
Dulcie nahm ihre Hand.»Allein brauchen Sie sich niemals zu fühlen, meine Liebe.»
Herrick hörte eine Uhr schlagen und unterdrückte einen Fluch.
«Ich muß gehen«, sagte er, an die Frau im grünen Reisekleid gewandt.»Am besten gewöhnen Sie sich schon ans abrupte Abschiednehmen. «Machte er ihr etwas vor, oder hatten ihr Mut, ihre Zuversicht auf ihn abgefärbt?
Draußen ernüchterte ihn die kühle Abendluft sehr schnell. Er warf einen Blick zur Straßenecke, aber der verkrüppelte Marinesoldat war nicht mehr da.
Von der Pier aus sah er seine Barkasse im Schatten warten; schnell tauchten die Riemen ins Wasser, und das Boot schoß auf ihn zu.
Herrick packte seinen Säbel und verfluchte den Wind, der ihm das Wasser in die Augen trieb. Tuck hätte ihn eher auf die Nationalflagge spucken als ein Mietboot nehmen lassen.
Diese beiden, Tuck und die schöne junge Frau mit dem kastanienbraunen Haar, hatten ihm wieder etwas von seiner alten Kraft und Zuversicht zurückgegeben, auch wenn ihm eine innere Stimme sagte, daß er wahrscheinlich bitter enttäuscht werden würde — später. Aber im Augenblick konnte er wieder hoffen.
Er stieß die Säbelscheide auf die rundgetretenen Kieselsteine und sagte wie zu sich selbst:»Halt aus, Richard! Wir geben noch nicht auf.»
«Sie wollten mich sprechen, Sir?«Leutnant Adam Pascoe stand mitten in der Kajüte, den Blick über die rechte Epaulette seines Kommandanten in die Ferne gerichtet.
Emes lehnte sich in seinem Stuhl zurück und preßte die Hände mit den Fingerspitzen gegeneinander.»So ist es.»
Von außerhalb der Kajüte drang kein Laut herein, lediglich Wind und See rauschten gedämpft, und ab und zu knarrte eine Schiffsplanke.
Emes begann:»Es sind jetzt fünf Tage vergangen, seit Styx sank. Morgen ist der sechste Tag. Ich habe nicht vor, auch nur eine weitere Stunde mitanzusehen — geschweige denn einen weiteren Tag — , wie Sie im Umgang mit mir jedes überflüssige Wort vermeiden und Ihr Schweigen nur brechen, wenn der Dienst es unumgänglich macht. Sie sind mein Erster Offizier, und das ist für einen so jungen Mann wie Sie eine beachtliche Chance. Und eine Ehre. Aber vielleicht sind Sie doch zu jung dafür?»
Pascoe sah Emes jetzt direkt an.»Ich verstehe Sie nicht! Wie konnten Sie das nur tun? Wie konnten Sie sie dem sicheren Verderben ausliefern?»
«Mäßigen Sie Ihren Ton, Mr. Pascoe, und sprechen Sie mich mit >Sir< an. Unter allen Umständen.»
Tap — tap — tap, die Fingerspitzen klopften leicht gegeneinander.
«Ein Angriff auf die französischen Boote war in dem Moment sinnlos geworden, in dem das Eingreifen größerer Kriegsschiffe unmittelbar bevorstand. Ich befehlige eine ziemlich alte Fregatte, Mr. Pascoe, und kein Linienschiff!»
Pascoe senkte den Blick, seine Hände zitterten so, daß er sie gegen die Schenkel pressen mußte, um sich nicht zu verraten. Seit diesem schrecklichen Tag hatte er an nichts anderes mehr denken können. Wenn sein Onkel dabei ums Leben gekommen war, dann hatte ihm bestimmt nicht der Tod den größten Schmerz gebracht. Nein, am schlimmsten mußte für ihn der Anblick seines alten Schiffes gewesen sein, seiner Phalarope, die er einst geliebt hatte und die jetzt ihn und die Seinen im Stich ließ. Aber Emes hatte in seinem gewohnten kühlen Ton schon weitergesprochen.»Wenn Ihr Onkel nicht auf Styx gewesen wäre, würden Sie die Sache vielleicht anders sehen. Sie sind emotional zu stark beteiligt, zu direkt betroffen, um die Tatsachen zu akzeptieren. Styx hatte keine Chance mehr. Meine Verpflichtung galt in erster Linie diesem Schiff hier und dem noch verbliebenen Rest unseres Geschwaders, das mir als dem ranghöchsten Offizier nun anvertraut war. Eine tapfere, aber sinnlose Geste hätte mir die Admiralität schlecht gedankt, und noch mehr hätten die Witwen sie mir verübelt, deren Männer ich in den Tod geschickt hätte, wäre ich so verfahren, wie Sie es ertrotzen wollten. Sie haben an Bord gute Arbeit geleistet, und ich bin bis zu einem gewissen Grad mit Ihnen zufrieden. Aber wenn ich diese Mahnung wiederholen muß, dann werde ich dafür sorgen, daß Sie vor ein Seekriegsgericht kommen. Habe ich mich klar ausgedrückt?»
Unbeherrscht platzte Pascoe heraus:»Glauben Sie, das kümmert mich noch, wenn.»
«Das sollte es aber!«Emes' beide Hände schlugen krachend auf den Tisch.»Nach allem, was ich hörte, hat die Familie Ihres Onkels einen guten Namen in der Marine, oder?»
Pascoe nickte krampfhaft.»Und er hat alles für mich getan, alles.»
«Eben. «Emes entspannte sich fast unmerklich.»Vergessen Sie nicht, Sie sind ein Mitglied dieser Familie.«»Jawohl, Sir.»
«Dann handeln Sie danach. Möglicherweise sind Sie jetzt der letzte der Bolithos. «Er hob die Hand, weil Pascoe protestieren wollte.»Möglicherweise, sagte ich. Wenn Sie als Erbe nach Hause zurückkehren, werden Sie anderen ein Vorbild sein müssen. Es geht jetzt um mehr als um Ihre private Verzweiflung. Hassen Sie mich, wenn Sie unbedingt wollen, aber vernachlässigen Sie nicht Ihren Dienst. Das ist alles, was ich von Ihnen verlange. Was ich Ihnen befehle.»
«Darf ich jetzt gehen, Sir?»
Emes wartete, den Blick auf seine gefalteten Hände gerichtet, bis sich die Tür hinter dem jungen Leutnant mit dem wirren Haarschopf geschlossen hatte. Dann fuhr er sich mit der Handfläche über die Stirn. Sie war naß vor Schweiß, und er kam sich schmutzig vor; übel war ihm außerdem.
Die Sache war damit noch nicht ausgestanden, das wußte er, auch daß die Zeit allein diese Wunden nicht heilen konnte. Pascoe würde die Dinge nicht auf sich beruhen lassen, und in seiner Verzweiflung konnte er alles zerstören.