Er hörte Bootsmann Tomlins ärgerliche Stimme in der Finsternis — wahrscheinlich hatte er einen unglücklichen Wachmatrosen beim Schlafen überrascht. Kein Wunder. Die Männer hatten wie die Teufel gearbeitet, bis das letzte Boot des Geschwaders im Abendlicht zwischen den ankernden Schiffen verschwunden war. Die scheinbar hoffnungslose Aufgabe war geschafft; aber wie das in so relativ kurzer Zeit hatte geschehen können, wußte keiner zu sagen. Männer, Frauen und Kinder von St. Clar. Verwundete Soldaten und die eiligst zurückgerufenen Truppen von der Brücke. Irgendwie waren sie alle in die Transporter gequetscht worden; doch Herrick bezweifelte, daß dort jemand zum Schlafen kam. Der Landwind trug den Gestank nach Feuer und Tod heran und erinnerte sie an das, was sie hinter sich lassen mußten.
Irgendwo dort hinter dem dunklen Ufer ist Bolitho noch an der Arbeit, dachte er grimmig, und nimmt auf seine eigenen Schultern, was von Rechts wegen andere tragen müßten.
Er hörte Schritte neben sich. Schwarz hob sich Gossetts mächtige, in einen langen Ölmantel gehüllte Gestalt von den gebleichten Decksplanken ab.
«Dauert nicht mehr lange, Mr. Herrick«, sagte der Master gelassen.
«Sie konnten also auch nicht schlafen?«Herrick schlug die Arme zusammen, um das Blut wieder in Gang zu bringen.»Mein Gott, das war eine lange Nacht!»
«Ich habe keine Ruhe, ehe nicht alle unsere Leute wieder an Bord sind«, knurrte Gossett. Er hob die Hand, denn ein Pfiff wie von einem aufgeschreckten Seevogel schrillte über das Wasser.»Sie pfeifen >Alle Mann< auf den Transportern. Die gehen gleich Anker auf.»
«Gut. «In den kalten Wind spähend, sah Herrick, wie das Licht einer kleinen Laterne über das Deck des einen Transporters huschte. Wenn ein neuer Tag über den Ruinen von St. dar aufging, würde der kleine Konvoi in See stechen, mit der Princesa als Hauptgeleitschiff; bis Gibraltar sollte noch die Fregatte Bat und eine der Schaluppen dazustoßen.
Gossett schien Herricks Gedanken gelesen zu haben.»Diesmal wenigstens können wir uns auf die Princesa verlassen. Sie ist auf Heimatkurs, da findet sie schon hin«, sagte er bitter.
Beide fuhren zusammen, denn vom Steuerborddecksgang ertönte ein Ruf:»Boot ahoi!»
Aus dem Dunkel kam sofort die Antwort: «Aye, Hyperion!»
«Das ist komisch«, murmelte Gossett.»Anscheinend eins von unseren eigenen Booten, aber der Käpt'n sitzt nicht drin.»
Herrick nickte und schritt zum Fallreep.»Der kommt auch nicht, ehe nicht alle anderen weg sind, Mr. Gossett.»
Der Master seufzte.»Das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen.»
Das Boot machte an den Großrüsten fest, und Sekunden später kam Allday durch die Fallreepspforte. Als er den Leutnant sah, klopfte er grüßend an die Stirn.
«Kompliment vom Kommandanten, Sir. «Er spähte zum Boot hinunter und zischte:»Schnauze halten, da unten!«Dann fuhr er fort:»Würden Sie bitte mit anfassen, damit wir den Admiral an Bord kriegen, Sir?»
Herrick starrte ihn an.»Den Admiral?«Jetzt kam Rowlstone durch die Fallreepspforte, ihm folgte der kleine Piper. Gelassen fuhr Allday fort:»Befehl vom Kommandanten: Sir Edmund wird in seine Schlafkabine gebracht, Sir. «Er bemerkte, daß Herrick sich nach dem Bootsmannsmaat der Wache umsah, und warnte rasch:»Er hat gesagt: keinen Wirbel, und niemand kriegt den Admiral zu sehen, bis er wieder auf den Beinen ist.»
Herrick nickte. Er kannte Allday lange genug; niemals hatte er erlebt, daß dieser verwirrt war oder seine Befehle durcheinanderbrachte. Wenn Bolitho wollte, daß Pomfret unbemerkt an Bord kam, dann hatte er bestimmt Gründe dafür.
Er winkte Gossett:»He, fassen Sie mit an!»
Wie Verschwörer schoben und hoben sie den in eine Decke gewickelten Pomfret durch die Pforte und dann zum Achterdeck. Der Adjutant des Admirals legte mit Hand an die primitive Tragbahre.
Auch der hat wahrscheinlich die ganze Nacht nicht geschlafen, dachte Herrick.
Allday führte die kleine Kolonne an, die ihren Weg zur Kampan-je nahm.»Der Captain kommt mit der Nachhut, Sir. «Er rieb sich das Kinn, es knirschte wie Sandpapier.»Dann muß aber alles schnell gehen.»
Herrick nickte.»Wir sind seeklar. «Er hielt Allday an, der sich eben umwandte, um wieder zum Boot zu gehen.»Sagen Sie Cap-tain Bolitho…«Er brach ab, wußte nicht, wie er seine Gefühle ausdrücken sollte.
Allday grinste in der Dunkelheit.»Dem brauch' ich nichts zu sagen, Sir. Er weiß schon, was Sie denken, keine Angst.»
Herrick blickte dem Boot nach, als es von der Bordwand abstieß. Die Riemen strichen schwer und müde, so müde wie die Männer selbst.
Ein Matrose rief:»Die Transporter haben Anker kurzstag, Sir! Und die Erebus setzt auch schon Bramsegel!»
«Gut. «Herrick sah jetzt, wie die fahle Leinwand auch auf den anderen Schiffen Form und Identität bekam. Ein Schiff nach dem anderen machte sich klar zum Auslaufen. Er befahl:»Sagen Sie Mr. Tomlin, er soll in einer Viertelstunde >Alle Mann< pfeifen; und die Kombüse soll Feuer machen. «Ein leichter Schauer überlief ihn.»Es wird wohl eine Weile dauern, bis wir danach die nächste warme Mahlzeit in den Bauch kriegen.»
Gossett trat zu ihm an die Reling.»Was bedeutet das alles, Mr. Herrick? Warum ist Sir Edmund bei uns und nicht auf dem Flaggschiff?»
Herrick blickte kurz zur Tenacious hinüber.»Warum? Das geht uns nichts an. Aber bei Sonnenaufgang werden wir Sir Edmunds Flagge am Besanmast hissen. «Er spürte, wie Gossett ihn anstarrte.»Und wo die Flagge ist, da ist auch die Verantwortung — oder ich müßte mich sehr irren.»
Als das erste Sonnenlicht die Berge berührte und in die voller Trümmer liegenden Straßen sickerte, eröffnete die feindliche Artillerie wieder das Feuer. Schwarze Rauchwolken quollen von der Pier auf. Helle Funken und Flugasche markierten die letzte Phase der Zerstörung: Soldaten warfen ölgetränkte Lappen in Lagerschuppen und Fischerboote und zündeten sie an. Mit grimmigem Gesicht stand Hauptmann Ashby neben seiner Abteilung Seesoldaten und beobachtete, wie die letzten Männer eilig von der Feuerlinie zurückkamen und zu den Booten strömten; manche schleppten verwundete Kameraden, andere gebrauchten ihre Musketen als Krücken.
Im Hauptquartier stand Bolitho an einem offenen Fenster, die Hände auf das Fensterbrett gestützt, und blickte aufmerksam in die Berge jenseits der Stadt. Hinter sich hörte er Stiefel knirschen. Ein junger Infanterieoffizier, schwarz vor Pulverrauch, stand da und sah ihn an.»Alles fertig?»
Der Offizier nickte.»Die letzte Gruppe geht eben zurück, Sir. «Er wandte sich um und nahm Haltung an, denn ein junger Leutnant mit drei Mann in voller Ausrüstung bog unten um die Straßenecke, im Gleichschritt wie bei der Parade. Der Leutnant trug die Regimentsfahne, und als er an Bolitho vorbeikam, sah dieser, daß Tränen helle Bahnen in das geschwärzte Gesicht gezogen hatten.
Bolitho trat ins Zimmer zurück. Schon war das Haus leer und halbzerstört; kaum deutete etwas darauf hin, daß Pomfret einst von hier aus seinen» ersten Schritt nach Paris «hatte tun wollen.
Draußen auf dem Platz stand Ashby und grüßte dienstlich.»Sprengladungen gelegt, Sir. Die Frogs können jetzt jede Minute kommen.»
Bolitho nickte und horchte auf das Gewitter der schweren Artillerie, die ein letztes Sperrfeuer auf die ausharrende Stellung der Rotröcke legte. Deutlich sah er die hinter Barrikaden und Erdaufschüttungen kauernden Gestalten, die scheinbar bereit und entschlossen waren, auch noch diesem letzten Angriff standzuhalten. Dies war beinahe das Scheußlichste an dieser scheußlichen Geschichte, dachte er. Denn kurz vor Sonnenaufgang, als die erschöpften Truppen sich aus ihren Stellungen zurückzogen, hatten Lieutenant Inch und eine Abteilung Matrosen nach seinen Anordnungen die letzte Nachhutstellung vorbereitet. Doch wenn die Franzosen nun bald das Feuer einstellen und in die Stadt stürmen würden, konnten diese Soldaten weder zurückschießen noch ihre Waffen wegwerfen und sich ergeben; denn sie waren schon tot. Aus dem Feldlazarett und von den Erdschanzen hatten Matrosen die Gefallenen, die nicht mehr dagegen protestieren konnten, zusammengetragen und sie mit ihren Musketen zu einer stillen Feuerlinie aufgebaut. Sogar eine Fahne wehte über ihren blicklosen Gesichtern, als letzter, grimmiger Hohn.