Schwacher Laternenschein wies ihm den Weg zu Whitmarshs primitivem Arbeitsraum: aneinandergelaschte Seekisten, auf denen die Verwundeten entweder gerettet wurden oder verzweifelt starben; Lederriemen zum Drauf beißen, Verbandszeug, um die Schmerzen zu lindern. Der riesige Schatten des Doktors schwankte auf dem schlingernden Deck. Bolitho beobachtete ihn aufmerksam. Ein starker Brandygeruch hing in der feuchtheißen Luft. Brandy zum Betäuben — oder um den Arzt auf seine Privathölle vorzubereiten?
«Alles klar, Mr. Whitmarsh?»
«Aye, Sir.»
Der Arzt schlurfte zu einer Seekiste und stemmte sich mit dem Knie dagegen. Er deutete mit einer Handbewegung auf seine Helfer, die stummen Sanitätsgasten, die das Opfer festhalten würden, bis die Arbeit getan war: brutal geworden durch ihre Tätigkeit, taub für die Schreie und jenseits allen Mitleids.
«Wir alle warten darauf, was Sie uns schicken werden, Sir. «Bolitho blickte ihm kalt ins Gesicht.»Werden Sie es nie lernen?»
Finster entgegnete der Arzt:»O doch, Sir, ich habe meine Lektion gut gelernt. Wenn ich einem Mann das Bein abgesägt oder Werg in seine leere Augenhöhle gestopft habe, mit nichts als Schnaps gegen die Schmerzen, dann bin ich Gott näher als die meisten Menschen.»
«Wenn dem so ist, dann kommen Sie ihm bitte nicht noch näher!«Bolitho nickte den anderen zu und ging zur Leiter.
«Vielleicht werde ich auch Sie hier begrüßen können, Sir!«rief der Arzt hinter ihm her. Bolitho antwortete nicht. Anscheinend brach der Wahnsinn bei Whitmarsh jetzt endgültig durch. Der schändliche Tod seines Bruders, der Suff und die Art, wie er sich sein Brot verdienen mußte, wirkten sich aus. Aber der Mann hatte auch eine andere Seite: er hatte von Mitleid mit den Verwundeten gesprochen, vom Dienst an den Unglücklichen — auf diese Seite seines Charakters mußte sich Bolitho verlassen.
Wieder dachte er an Herrick und hoffte, daß er mit seinem Boot rechtzeitig wegkam, wenn der Schoner endgültig auf Selbstmordkurs war. Seltsame Gefährten hatte er: darunter Puigserver und den kleinen Segelmacher aus Bristol, der in all seiner Angst noch den Mut gefunden hatte, an den Ort zurückzukehren, wo man ihn an Geist und Körper gebrochen hatte.
«Captain, Sir!»
Das war Keens Stimme. Er beschleunigte seine Schritte.»Was ist?»
Aber als er die Leiter ergriff und das bleiche Rechteck des Himmels sah, wußte er die Antwort. Langsame, schwere Regentropfen prasselten auf das Luk wie kleine, von den Rahen fallende Kieselsteine, trommelten auf Planken und Decksgänge.
Er zog sich die letzten Sprossen hinauf und eilte zum Achterdeck. Er war noch ein paar Fuß entfernt, da öffneten sich die Wolkenschleusen, und der Regen rauschte in mächtigen, ohrenbetäubenden Schleiern herab.
Bolithos Stimme übertönte die Sintflut.»Was macht der
Wind?»
Mudge stand gebückt bei der Kompaßbussole; unterm Anprall des Regens hatte sich sein Hut verschoben.
«Schießt aus, Sir, soweit ich sagen kann.»
Zischend und gurgelnd floß das Wasser übers Deck und durch die Speigatten. Die durchfrorenen Geschützbedienungen drückten sich unter die Decksgänge und kauerten hinter den geschlossenen Stückpforten, um den Sturzbächen zu entgehen.
Allday wollte Bolitho den geteerten Bootsmantel über die Schultern legen, aber der schob ihn zur Seite. Er war bereits naß bis auf die Haut, und die Haare klebten ihm in der Stirn. Das Rauschen von Regen und Spritzwasser betäubte ihn fast. Aber trotz allem behielt er den Kontakt mit seinem Schiff. Das Deck lag ziemlich stetig unter seinen Füßen, und über seinem Kopf killte, wie er eben noch erkennen konnte, das Großmarssegel und glänzte vor Nässe in dem immer mehr ausschießenden
Wind.
«An die Brassen, Mr. Davy! Holen Sie die Schoten dicht!«Tappend und fluchend gehorchten die Männer; das gequollene Tauwerk quietschte protestierend in den Blöcken, als die Rahen herumgeholt wurden, um das Schiff auf Kurs zu halten.»Einen Strich höher«, befahl Bolitho.
Am großen Doppelruder rutschten Männer aus; er sah, wie Carwithen nach einem der Rudergänger boxte, der sich im Regenguß duckte.
«Nordwest, Sir! Voll und bei!»
«Kurs halten!»
Bolitho wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel. Der prasselnde Regen half, ihm den Kopf freizumachen, so daß er sich mit dem Geschehen auseinandersetzen konnte. Wenn der Wind weiter ausschoß, auch wenn er nur so blieb wie jetzt, würde Herrick seinen Schoner nicht in die Position manövrieren können, von der aus er Muljadis Batterie zerstören konnte. Mußte der verdammte Wind ausgerechnet jetzt umspringen? Waren es Regentropfen oder Tränen der Verzweiflung, die ihm die Augen netzten?
Er schlitterte zu Mudge hinüber und schrie:»Wie weit haben wir noch, was denken Sie?»
«Vier oder fünf Meilen, Sir, mehr nicht. «Enttäuscht starrte Mudge in den Regen.»Dieser Guß wird schnell vorbeigehen. Aber dann…«Er hob die Schultern.
Bolitho wandte die Augen ab. Er wußte Bescheid. Stand die Sonne erst hoch, dann würde der Wind höchstwahrscheinlich auffrischen, Herrick nutzte er nichts, aber Le Chaumareys verlieh er Sicherheit an seinem Ankerplatz. Und die Undine würde hilflos sein. Sie würde vor der Küste warten müssen, bis der Feind seine beiden Schiffe gefechtsklar hatte und zu seinen Bedingungen kämpfen konnte. Oder sie konnten abdrehen und nach Pendang Bay zurückeilen, ohne etwas anderes mitzubringen als eine letzte Warnung.
«Eine Schweinerei, bei Gott!«rief Davy wütend.
Fast mitleidig sah Mudge zu ihm hinüber.»Das ganze Leben ist ein einziges Rückzugsgefecht, Mr. Davy, von dem Tag Ihrer Geburt an.»
Bolitho fuhr herum, um beiden Schweigen zu gebieten, aber da bemerkte er, daß er des Steuermanns Gesicht besser erkennen konnte als zuvor. Die Morgendämmerung brach an — dagegen war nichts zu machen.
Das Blut schoß ihm zu Kopf.»Wir greifen an wie geplant!«rief er.»Weitersagen an alle!»
Davy sah ihn offenen Mundes an.»Gegen die intakte Batterie, Sir?»
«Das hätte vielleicht sowieso nicht geklappt. «Er versuchte, ruhig zu sprechen.»Der Gegner wird dem Regen zuhören und Gott dafür danken, daß er sicher vor Anker liegt. «Scharf sprach er weiter:»Sind Sie taub, Mann? Sagen Sie Mr. Soames, er soll laden lassen, sowie der Regen vorbei ist!»
Davy nickte krampfhaft und rannte zur Reling.
Hauptmann Bellairs trat zu Bolitho.»Verdammt riskante Sache, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, Sir«, sagte er kühl.
Bolitho spürte, wie seine Schultern unter dem Regen tiefer sackten und der plötzliche Funke in ihm erlosch.
«Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?»
Bellairs stellte seinen Kragen hoch und schob die Lippen vor.»Oh, ich würde auch kämpfen, Sir. Wir haben ja keine andere Wahl. Aber schade ist es trotzdem. Gottverdammt schade!»
Bolitho nickte.»Da sind wir uns einig.»
«Deck ahoi! Land voraus in Sicht!«schallte es vom Ausguck.
Steifbeinig schritt Bolitho nach Lee hinüber, seine Sohlen quietschten auf dem nassen Deck. Ein dunkler Streifen dehnte sich zu beiden Seiten des Bugs, schimmerte in dem schwachen Licht täuschend friedlich herüber.
Eine Stimme sagte leicht überrascht:»Der Regen läßt nach.»
Wie zur Bestätigung hob sich die triefend nasse Fock vor einer auffrischenden Bö. Bolitho schauerte und biß die Zähne zusammen.»Sagen Sie Mr. Soames Bescheid: laden und klar zum Ausrennen auf Befehl!«Er sah sich nach Keen um.»Die Flagge!»
Eine andere Stimme murmelte:»Keine Chance, Kumpels! Die machen uns fertig!»
Bolitho hörte den Fall quietschen, als das Tuch zum Masttopp emporstieg und sich im Wind entfaltete, auch wenn es vorläufig unsichtbar blieb.
«Sobald es hell genug ist, Mr. Keen, signalisieren Sie dem Schoner:»Aktion einstellen «Mr. Herrick kann hier warten und unsere Boote aufnehmen.»
«Aye, aye, Sir«, sagte Keen,»ich werde gleich… »
Er fuhr ärgerlich herum, denn aus dem Dunkel hörte er jemanden sagen:»Und unsere blutigen Leichen auffischen, das ist wahrscheinlicher!»