Bolitho straffte den Rücken und schaute zu den dunkleren Linien der Takelage hoch. Die Undine fuhr unter Mars- und Vorstagsegeln; nur die mächtige Fock verdeckte die See vor dem Bugspriet. Es war seltsam, daß ihn so fröstelte, obwohl doch die Sonne in ein paar Stunden quälend brennen würde, ganz abgesehen von dem, was sie sonst noch erwartete.
«Hält der Wind, Mr. Mudge?»
Der Segelmeister war offensichtlich froh, das Schweigen brechen zu können.»Stetig Südwest, Sir. Voll und bei. «Er hustete laut.»Normalerweise wäre ich dankbar dafür.»
«Und warum sind Sie's nicht?»
«Weiß nicht recht, Sir. «Mudge verließ seinen Platz bei den Geschützbedienungen der Achterdeck-Sechspfünder.»Ist zu unruhig für meinen Geschmack.»
Bolitho wandte sich um und spähte zum Vorschiff. Die mächtige Fock schien Mudges Zweifel zu bestätigen. Die Undine steuerte fast genau Nord, und vor dem raumen Wind hätte sie glatt und gleichmäßig segeln müssen. Aber das tat sie nicht. Immer wieder füllte sich die Fock so hart, daß die Stagen und Wanten summend vibrierten, und hielt das Schiff mehrere Minuten lang fest auf Kurs. Aber dann wieder killte sie knatternd und fiel ein, hing schlaff fast bis zum Vormast durch — und das in ständigem Wechsel.
«In diesen Gewässern weiß man nie«, sagte Mudge skeptisch.»Jedenfalls nie genau.»
Nachdenklich studierte Bolitho Mudges zerraufte Silhouette. Wenn schon dieser erfahrene Mann sich Sorgen machte, was sollten da erst die anderen sagen?
«Mr. Davy«, rief er,»ich gehe aufs Vorschiff. «Der Leutnant löste sich von der Reling.»Sagen Sie Mr. Keen, er soll mir Gesellschaft leisten.»
Bolitho schlüpfte aus seinem Ölzeug und reichte es Allday. Er war so in seine Gedanken vertieft gewesen, daß er sich gar nicht klargemacht hatte, wie diese nur zäh dahinschleichenden Stunden auf seine Gefährten wirken mußten. Er hatte» Klarschiff zum Gefecht «trommeln lassen, und in der fast vollständigen Dunkelheit hatte das Manöver kaum länger gedauert als am hellen Tag, so vertraut waren sie inzwischen mit dem Schiff. Es war ihr Zuhause. Daß so früh gefechtsklar gemacht wurde, war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Der Schall pflanzte sich auf See leicht fort, und der Lärm beim Herausnehmen der Zwischenwände, das Scharren und Knarren beim Riggen der Schutznetze über dem Geschützdeck und das Sichern aller Rahen mit Ketten war stark genug, um Tote zu erwecken. Aber danach konnten sie nichts weiter tun als warten — und darüber nachgrübeln, was das Tageslicht ihnen bringen würde.
Keen tauchte aus der Dunkelheit auf, bleich schimmerte seine Hand auf einem der schwarzen Sechspfünder.»Was macht Ihre Wunde?«fragte Bolitho.»Danke, Sir, schon viel besser.»
Bolitho lächelte. Fast fühlte er selbst den Schmerz, der vermutlich auf Keens Gesicht stand.
«Dann begleiten Sie mich ein bißchen.»
Sie schritten zusammen den Leedecksgang entlang, duckten sich unter den straffgespannten Netzen, die Shellabeers Leute aufgeriggt hatten, um fallende Takelage oder Schlimmeres aufzufangen, sahen in die emporgewandten Gesichter der Geschützbedienungen, die ruhelosen Gestalten der Seesoldaten auf Posten an den Niedergängen, die Pulveräffchen — Schiffsjungen, die dicht beieinander hockten und darauf warteten, die jetzt noch stummen Kanonen zu füttern.
Auf der Back, wo die niedrigen Karronaden wie gefesselte Tiere nach vorn spähten, erschauerten die Geschützbedienungen jedesmal, wenn Sprühwasser überkam und sie durchnäßte.
Bolitho blieb stehen und griff mit einer Hand in die Netze, als die Fregatte stampfend in ein tiefes Wellental glitt. Die meisten Matrosen waren nackt bis zum Gürtel; ihre Oberkörper schimmerten schwach vor dem dunklen Wasser.
«Alles klar, Leute?»
Sie drängten sich um ihn, überrascht durch sein plötzliches Auftauchen. Gezwungenermaßen hatte man das Feuer in der Kombüse gelöscht, als gefechtsklar gemacht wurde. Ein heißer Trunk hätte jetzt mehr gezählt als ein Dutzend zusätzlicher Kanonen, dachte Bolitho bitter. Er sagte zu Keen:»Mein Kompliment an Mr. Davy, und er soll für alle Mann eine doppelte Ration Rum ausgeben lassen. «Die Männer um ihn reagierten sofort; freudiges Gemurmel lief das Geschützdeck entlang.»Und wenn sich der Zahlmeister ziert, bekommt er es mit mir zu tun!»
«Danke, Sir! Sie denken auch an alles, Sir!»
Er schritt zur Leiter und wandte dabei das Gesicht ab, damit sie seine Stimmung nicht spürten. Es war so leicht, sie aufzumuntern. Zu leicht, so daß er sich billig und heuchlerisch vorkam. Eine Doppelration Rum, die kostete nur wenige Pence. Wogegen sie in wenigen Stunden vielleicht ihr Leben oder ihre gesunden Glieder drangeben mußten.
Mit großen Schritten ging er zum Hauptniedergang. Dort stand der riesige Soames mit Tapril, dem Stückmeister. Er nickte Fowlar zu und den Bedienungen der Backbordbatterie. Alles seine Männer, für die er verantwortlich war.
Unvermittelt fiel ihm Konteradmiral Sir John Winslade ein, der ihn vor so vielen Monaten in der Admiralität eingewiesen hatte. Er hatte einen Fregattenkapitän gebraucht, dem er vertrauen, dessen Gedankengängen er folgen konnte, selbst auf der anderen Seite des Erdballs. Bolitho dachte auch an die beiden Veteranen unter den Fenstern der Admiralität; der eine war blind gewesen, der andere hatte für ihn und sich selbst gebettelt.
Alle diese kühnen Pläne und hochfliegenden Vorbereitungen für eine neue We lt! Doch am Kern der Dinge änderten sie gar nichts. Die Undine und die Argus waren zwar nur zwei Einzelschiffe, aber durch das, worum es bei ihrem Zweikampf ging, ebenso wichtig wie zwei feindliche Flotten.
Wenn die Undine es nun nicht schaffte — was würden sie dann sagen, die feinen Leute in den herrschaftlichen Häusern von Whitehall und am St. James' Square, in den geschäftigen Londoner Kaffeehäusern, wo aus bloßen Gerüchten in wenigen Minuten Tatsachen wurden? Würden sie auch nur einen Gedanken an die Männer verwenden, die für sie und für den König im Kampf ihr Leben gelassen hatten?
Irgendwo im Dunkel stieß jemand ein leises Hurra aus — vermutlich war der Rum eingetroffen.
Bolitho ging weiter nach achtern; er hatte es kaum gemerkt, daß er stehengeblieben war, weil sich seine Verbitterung in Zorn verwandelt hatte. Wie geräumig das Deck wirkte ohne die Boote, die sonst übereinander auf ihren Gestellen lagen! Jetzt hingen sie alle achteraus im Schlepp und warteten auf den Moment, da die Leinen gekappt werden würden.
Das war immer ein böser Moment, dachte er. Boote waren zwar zerbrechlich und bedeuteten in der Schlacht immer eine zusätzliche Gefahr, weil ihre Splitter wie Dolche umherflogen. Trotzdem waren die meisten Matrosen froh, daß die Boote an Deck waren: als letzte Hoffnung, wenn es ganz schlimm wurde.
Schnaufend kam Keen zurück.»Alles erledigt, Sir. Mr. Triphook hat sich allerdings ein bißchen aufgeregt über die Extraration. «Seine Zähne leuchteten weiß in der Dunkelheit.»Möchten Sie auch ein Glas, Sir?»
Rum war Bolitho zuwider. Aber er sah, daß die Matrosen und Seesoldaten ihn beobachteten.»Aber gewiß, Mr. Keen«, sagte er deshalb und hob das Glas zum Mund.
«Auf uns, Jungs!»
Er dachte an Herrick und Puigserver auf ihrer schwimmenden Bombe. Und auf dich, Thomas!
Er trank aus und blickte zum Himmel: noch kein Lichtschimmer. Und auch kein Stern zu sehen.»Ich gehe nach unten«, sagte er und tippte dem Midshipman auf den Arm.»Sie bleiben hier beim Niedergang. Lassen Sie mich rufen, wenn nötig.»
Bolitho stieg in die Finsternis hinab. Hier waren seine Bewegungen nicht so sicher. Jeder hätte ihn rufen können, wenn er gebraucht wurde, aber er wollte Keen einen unnötigen Besuch im Schiffslazarett ersparen. Das konnte noch früh genug kommen. Er dachte an Keens große, pulsierende Wunde, an Alldays sanfte Hände, mit denen er den blutigen Splitter herausgeholt hatte.
Noch eine Leiter. Er blieb stehen. Um ihn herum stöhnten und knarrten die Schiffsplanken. Auf diesem Deck roch es anders: nach Teer und Werg, nach dicht beieinander lebenden Menschen, obwohl das Logis jetzt verlassen war. Und vom Vorschiff her kam der Gestank des mächtigen Ankergeschirrs, von Bilgewasser und feuchter Kleidung. So roch es eben in einem lebenden, arbeitenden Schiff.