XVIII Im Namen des Köni gs
«Zwei Strich Backbord!»
Bolitho versuchte, an Deck auf und ab zu gehen, aber er konnte seiner Nervosität nicht Herr werden. Noch waren die Spuren der Schlacht an Bord nicht beseitigt. Vor einigen Stunden waren sie in die östliche Durchfahrt eingebogen; unter einem Minimum an Leinwand tasteten sie sich zum offenen Meer; zwei Mann hingen im Wasserstag und loteten ständig.
Seit einer Stunde antwortete er auf Fragen, hörte sich Berichte und Meldungen an: zehn Tote, fünfzehn Verwundete, die Hälfte davon schwerverwundet. Eine ziemlich kleine Verlustliste in
Anbetracht dessen, was sie geleistet hatten; aber das tröstete ihn wenig, wenn er die Reihe der an Deck liegenden vernähten Hängematten ansah — ein nicht ungewohnter Anblick — , oder wenn wilde Schmerzensschreie aus der Hauptluke gellten.
Wenn nur Allday endlich kommen und ihm berichten würde, was mit Herrick war! Er hatte den überlebenden Matrosen schon befragt, es war Lincoln mit der grotesken Narbe im Gesicht, durch die er aussah, als grinse er ständig.
Bolitho hatte bemerkt, daß Lincoln alles noch einmal durchlebte, als er stotternd berichtete; er schien sich gar nicht bewußt zu sein, daß sein Kapitän und die Offiziere um ihn herumstanden — ja, er schien noch gar nicht richtig begriffen zu haben, daß er tatsächlich lebte.
Es war fast so geschehen, wie Bolitho es sich gedacht hatte: Herrick war entschlossen, die Batterie zu zerstören und seinen Schoner dort auf Grund zu setzen — um jeden Preis, selbst den des eigenen Lebens. Im letzten Moment, als die Lunte bereits glimmte und das Fahrzeug vom Steilhang her beschossen wurde, hatte Herrick ein vom Großmast fallender Block bewußtlos geschlagen.»Und da«, flüsterte der kleine Matrose,»kommt Mr. Pigsliver kalt wie 'ne Hundeschnauze und sagt:»Ab mit euch ins Boot, ich habe 'ne alte Rechnung zu begleichem — aber was er damit meint, sagt er nicht. Da waren wir nur noch drei Mann. Also, ich und Jethro fieren Mr. Herrick ins Dingi, aber der andere, der kleine Segelmacher, sagt, er bleibt beim Don. «An dieser Stelle hatte Lincoln so gezittert, daß er zunächst schwieg.»Wir also nix wie ab«, fuhr er dann fort.»Und da geht der Schoner auch schon hoch, und den armen Jethro haut's über Bord. Ich hab' gepullt wie verrückt und dabei gebetet, daß Mr. Herrick wieder zu sich kommt und mir sagt, was ich tun soll. «Vor lautlosem Schluchzen konnte er eine Weile nicht weitersprechen.»Dann seh' ich hoch — und da is' sie in Lebensgröße, die alte Undine. Ich schüttel' Mr. Herrick und rufe:»Hallo, wachen Sie auf, das Schiff kommt uns holen!«Und er — also, er guckt mich bloß an und meint:»Na und? Was hast du denn gedacht?»«
Leise hatte Bolitho gesagt:»Danke, Lincoln. Das sollst du nicht umsonst getan haben.»
«Und Sie werden auch nicht vergessen, in Ihren Bericht das über Mr. Pigsliver zu schreiben, Sir? Ich — ich meine, Sir, er mag ja 'n Don sein, aber…«Und dann war Lincoln völlig zusammengebrochen.
Jetzt, als Bolitho ruhelos an den Sechspfündern entlangging, wo die Geschützführer im Sonnenschein knieten, Zubehör durchsahen, Leinen und Blöcke prüften, die Oberkörper noch von Ruß und getrocknetem Blut befleckt, da versprach er sich: Nein, ich werde Puigserver nicht vergessen.
«Deck ahoi!»
Geblendet schaute er hoch.»Offenes Wasser voraus, Sir!»
Hinter sich hörte er Schritte und fuhr herum.»Allday, wo, zum Teufel, waren Sie so lange?«Aber es war nicht Allday.
Bolitho lief über das Deck und streckte beide Hände aus, ungeachtet der neugierigen Gesichter rechts und links.»Thomas!«Er ergriff Herricks Hände.»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.»
Herrick lächelte schwach.»Ich bin immer noch derselbe,
Sir.»
«Sie sollten unten bleiben, bis… «»Deck ahoi! Segel im Osten!»
Herrick zog die Hände zurück und sagte gelassen:»Ich bin schließlich Erster Leutnant, Sir. «Langsam blickte er sich auf dem Achterdeck um, sah die Splitter, die von Musketenkugeln zerfetzten Hängematten.»Mein Platz ist hier.»
Davy trat herzu und tippte an den Hut.»Wieder klar Schiff zum Gefecht, Sir?»
«Ja.»
Lächelnd sagte Davy zu Herrick:»Anscheinend hatten Sie auch nicht mehr Glück mit dem Schoner als ich. Aber ich bin sehr froh, daß Sie wieder da sind, und das ist die pure Wahrheit.»
Herrick faßte an seinen frischen Kopfverband und zuckte zusammen.»Wenn man mir nicht versichert hätte, daß es anders war, dann würde ich sagen, Puigserver hat mir selber eins über den Schädel gegeben. So sehr war er darauf versessen, die Sache zu Ende zu bringen.»
Er schwieg, die Trommeln wirbelten, die müden Gestalten an Geschützen und Brassen sprangen auf. Der letzte Streifen Land glitt hinter ihnen zurück, und die blaue, von kräftiger Dünung belebte See erstreckte sich endlos bis zur glitzernden Kimm. Backbords voraus, Rumpf und Spieren schwarz gegen das Licht, stand die Argus. Sie schien nur sehr langsame Fahrt zu machen, die Rahen waren vierkantgebraßt, um sie auf konvergierendem Kurs zu halten.
«Vier Meilen, würde ich sagen«, murmelte Herrick.
«Ungefähr.»
Bolitho studierte das gegnerische Schiff genau, er konnte einfach nicht wegsehen. Sie erinnerte ihn an eine Wildkatze, wie sie dort durch die weißköpfigen Wellen schlich: zielstrebig, hinterhältig, tödlich.
Er bildete sich ein, das Quietschen der Lafetten zu hören, als der glatte Rumpf auf einmal von Kanonenrohren gespickt war. Le Chaumareys ließ sich Zeit, wartete Bolithos ersten Zug ab.
Die Spannung kehrte stärker zurück. Vielleicht hatte Le Chaumareys das alles so vorausgeplant, weil er seinem Verbündeten Muljadi nicht traute und damit rechnete, daß Bolitho ein Unentschieden, vielleicht sogar einen Sieg erkämpfen würde, wenn er sich seine Angriffsweise selbst aussuchen konnte.
Die Männer der Undine hatten einen harten Kampf hinter sich. Forschend musterte er die von Kugeln durchlöcherten Segel, hörte den Schiffszimmermann und seine Gang im unteren Raum hämmern. Er wußte, daß er viel von ihnen forderte, wenn sie jetzt schon wieder und gegen diesen mächtigen, schwarzbäuchigen Veteranen der französischen Flotte antreten sollten.
Dann blickte er die Männer in seiner unmittelbaren Nähe an. Er brauchte alle Seemannschaft, die sie besaßen, und nicht zuletzt ihren ganzen Mut.
«Na, Mr. Mudge, was macht der Wind?»
«Wird auffrischen, Sir. «Mudge zog sein Taschentuch und schnaubte sich heftig die große Nase.»Könnte ein bißchen krimpen. «Er deutete nach oben zum Wimpel, der steif stand wie ein Speer.»Ich möchte vorschlagen, Sir, daß Sie nur unter Bramsegeln kämpfen.»
Bolitho wandte sich an Herrick.»Was meinen Sie?»
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Herrick den Gegner.»Nahkampf, Sir. Sonst schießt sie uns mit ihren weitreichenden Kanonen in Stücke. «Das Deck hob sich unter der ersten anrollenden Welle, und Gischt flog bis in die Netze.
«Also los. «Bolitho leckte sich die trockenen Lippen.»Weg mit der Fock!«Er senkte die Stimme.»Und lassen Sie die Toten sofort bestatten. Es tut nicht gut, wenn man daran erinnert wird, wo manche von uns heute vormittag noch enden werden.»
Ruhig blickte Herrick ihm in die Augen.»Ich kann mir zwar bessere Gründe zum Sterben denken, Sir, aber — «, er blickte zu den reglosen Männern an den Geschützen hinüber — ,»keinen besseren Ort.»
Bolitho schritt zur Reling und beobachtete die Argus einige Minuten lang. Le Chaumareys hielt eine gute Ausgangsposition, hatte sie wahrscheinlich sehr genau vorausberechnet. Dort drüben lag er jetzt und lauerte, wartete ab, was Bolitho unternehmen würde. Ob er versuchen würde, in Luv von ihm zu gelangen oder den Kurs zu ändern, um das Heck der Argus zu passieren und sie dabei mit einer gutgezielten Breitseite zum Krüppel zu schießen.
Die französische Fregatte rollte so stark in der Dünung, daß der Kupferbeschlag des Rumpfes kurz zu sehen war. Der Wind lag voll auf der ihnen zugekehrten Bordseite, aber Le Chaumareys hielt sich zurück, blieb backbords der Unding und machte kaum Fahrt.