Schritte hasteten über das Achterdeck, dann trat Herrick wieder ein.»Sir, dieser verdammte Sullivan sitzt oben auf der Großbramrah und spielt verrückt! Keiner kann an ihn ran!»
Bolitho hörte Rufe an Deck und noch mehr Schritte.»Ich gehe hinauf!«sagte er.
Die Decksgänge waren voller Matrosen und Soldaten; Don Puigserver und sein spanischer Leutnant waren auch dabei und beobachteten zusammen mit Davy einen Bootsmannsmaat, der in den Großmast aufenterte, um Sullivan zu erreichen.
Der Matrose hockte auf der Rah; anscheinend machte ihm weder das mächtige geschwellte Segel noch die glühende Sonne auf seinem Rücken etwas aus. Er war bis auf. einen Gürtel völlig nackt, in dem der breite Dolch steckte, für dessen Gebrauch er ausgepeitscht worden war.
Nervös sagte Davy:»Ich weiß nicht, was ich machen soll, Sir. Der Kerl hat offenbar einen Sonnenstich oder Schlimmeres.»
Der Bootsmannsmaat brüllte:»Jetzt scher dich an Deck, oder, beim lebendigen Jesus, ich schmeiß dich eigenhändig von der
Rah!»
Aber Sullivan warf nur den Kopf zurück und lachte schrill, nervenzerreißend.»Aber, aber, Mr. Roskilly! Was wollen Sie denn machen? Mich mit Ihrem kleinen Tampen verhauen?«Er lachte wieder und riß den Dolch aus dem Gürtel.»Na, dann komm doch, Kleiner! Auf dich warte ich gerade, du verdammter Arschkriecher!»
«Kommen Sie herunter, Roskilly!«rief Bolitho.»Es hat keinen Sinn, sich umbringen zu lassen!»
Sullivan spähte unter der vibrierenden Rah hervor.»Hoppla, Leute — wen haben wir denn da? Keinen Geringeren als unseren schneidigen Käpt'n!«Er schüttelte sich vor Lachen.»Und er ist ganz durcheinander, weil ihm der arme alte Tom Sullivan sein schönes Wasser versaut hat!»
Ein paar Matrosen hatten über das seltsame Schauspiel gegrinst, aber als die Rede auf Wasser kam, wurden sie schnell wieder ernst. Bolitho musterte die erhobenen Gesichter und spürte die sich ausbreitende Betroffenheit wie den Anhauch einer Flamme. Laut dröhnten seine Schritte in der plötzlichen
Stille, als er nach achtern ging. Unter der Rahe blieb er stehen und blickte hoch.»Komm herunter, Sullivan!«Er stand im prallen Sonnenlicht, denn das bauchige Segel bot ihm keinen Schatten; er spürte Schweiß auf Brust und Schenkeln und auch den Haß des Mannes dort oben.»Für heute hast du genug angestellt!»
Sullivan kicherte.»Habt ihr das gehört, Jungs? Genug angestellt!«Er beugte sich über die Rah, das Sonnenlicht spielte über die Narben auf seinem Rücken, die weißlich von der gebräunten Haut abstachen. -»Sie haben genug mit mir angestellt, Käpt'n Bluthund Bolitho!»
«Sergeant Coaker!«befahl Herrick.»Lassen Sie einen Scharfschützen nach achtern kommen! Der Kerl da oben ist gemeingefährlich.»
«Befehl belegt!«rief Bolitho scharf, die Augen immer noch auf die Großbramrah gerichtet.»Ich will nicht, daß er abgeschossen wird wie ein toller Hund. «Er merkte, daß Puigserver ihn und nicht den Mann auf der Rah beobachtete, und daß Allday, ein Entermesser in der Hand, dicht neben ihm stand. Aber sie hatten alle nichts damit zu tun, es war eine Sache zwischen Sullivan und ihm. Er rief nach oben:»Ich bitte dich, Sullivan!«Er dachte an das Gesicht der Frau in der Kajüte. Ich bat Sie nicht erst darum, hatte er zu ihr gesagt.
«Zur Hölle mit Ihnen, Käpt'n!«Sullivan kreischte jetzt schrill, sein nackter Körper wand sich auf der Rah wie in qualvollen Krämpfen.»Und dabei helfe ich jetzt nach!»
Bolitho sah kaum die Handbewegung, nur das kurze Aufblitzen des Sonnenlichts auf der Klinge; dann entfuhr ihm ein leiser Ausruf: das Messer ritzte seinen Ärmel und fuhr dicht neben seinem rechten Schuh mit solcher Kraft in die Planken, daß sich fast ein Zoll der Klinge ins Holz bohrte.
Sullivan war wie erstarrt; ein langer Faden Speichel wehte von seinem Kinn. Ungläubig starrte er zu Bolitho hinab, der regungslos am Fuß des Mastes stand, während ihm Blut über Ellenbogen und Unterarm lief und aufs Deck tropfte. Bolitho ließ Sullivan nicht aus den Augen, und die Konzentration half ihm, den brennenden Schmerz der Schnittwunde zu ignorieren.
Plötzlich erhob sich Sullivan und begann, auf der Rah außenbords zu kriechen. Wildes Geschrei erscholl an Deck; Herrick griff nach Bolithos Arm, um den jemand ein Tuch wickelte, so daß der Schmerz dumpfer wurde.
Whitmarsh war bei den Netzen aufgetaucht und schrie ebenfalls dem Mann etwas zu, dessen Gestalt sich nun scharf vom blauen Himmel abhob. Sullivan drehte sich um und rief zum erstenmal mit jetzt normaler Stimme:»Und Sie auch, Doktor! Gott verdamme Sie zur Hölle!«Dann sprang er in hohem Bogen ins Leere und schlug Sekunden später laut aufklatschend ins Wasser. Ein paar Augenblicke trieb er noch achteraus, doch als der große Schatten des Besansegels über ihn hinwegglitt, warf er die Hände hoch und ging unter.
«Den hätten wir nie auffischen können«, sagte Herrick.»Wenn wir bei diesem Wind beidrehen, kommt alles von oben.»
Bolitho wußte nicht, zu wem Herrick sprach, vielleicht zu sich selbst. Er schritt zum Niedergang, den blutigen Arm mit der anderen Hand umklammernd, und sah noch, wie Roskilly, der Bootsmannsmaat, den Dolch aus den Planken zog. Roskilly war ein kräftiger Mann, aber er mußte zweimal ansetzen, bis die Waffe freikam.
Puigserver war Bolitho gefolgt.»Das war tapfer von Ihnen, Capitan.«Er seufzte.»Aber er hätte Sie töten können.»
Bolitho nickte. Die Schmerzen wurden stärker.»Wir haben harte Zeiten vor uns, Senor, Wir müssen Wasser finden, und zwar bald. Aber umkehren werde ich nicht. «Er biß die Zähne zusammen.
Puigserver sah ihn melancholisch an.»Es war eine schöne Geste, aber sie hätte Sie das Leben kosten können. Und alles wegen eines Verrückten.»
Bolitho betrat seine Kajüte.»Vielleicht waren wir beide nicht ganz klar im Kopf.»
Herrick kam ihm eilig nach, und sie sahen, daß in der Kabine direkt unter dem Oberlicht ein Stuhl stand: Raymond mußte hinaufgestiegen sein, um das Drama oben zu beobachten.
Mrs. Raymond stand am Heckfenster. Sie war sehr blaß, kam ihm jedoch entgegen.»Ihr Arm, Captain!«Dann befahl sie ihrer Zofe:»Verbandszeug!»
Jetzt erst merkte Bolitho, daß Herrick in der Kajüte war.»Nun?»
Herrick blickte ihn besorgt an.»Was Sie da taten…»
«Hätte mich das Leben kosten können. Ich weiß. «Er zwang sich zu einem Lächeln.»Das habe ich bereits von anderer Seite gehört.»
Herrick atmete langsam aus.»Und ich glaubte, Sie zu kennen,
Sir.»
«Aber jetzt, Thomas?»
Herrick grinste.»Ich weiß nur, daß Sie mich immer wieder überraschen. Mich und andere auch. «Er machte eine Handbewegung zum Deck hin.»Eben habe ich gehört, wie ein Matrose, der fast einen Monat lang nur geschimpft und über den Dienst geflucht hat, Sullivans schwarze Seele in die tiefste Hölle wünschte, weil er Sie umbringen wollte. «Sein Grinsen verschwand.»Aber mir wäre es lieber, Sie würden die Mannschaft auf andere Weise gewinnen, Sir.»
Die Zofe brachte eine Schüssel zum Tisch, und Bolitho hielt ihr den Arm hin.
«Wenn Sie etwas wissen, Thomas, womit man sie bei guter Stimmung halten kann, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie's mir sagten. Inzwischen lassen Sie» Alle Mann «pfeifen und setzen Sie die Royals. Ich brauche jeden Fetzen Leinwand, den das Schiff tragen kann. «Herrick wollte gehen, aber Bolitho hielt ihn zurück.»Und geben Sie bekannt: die Ration wird auf eine Pinte[11] Wasser pro Tag gekürzt. «Er blickte sich in der Kajüte um.»Auch für Offiziere und Passagiere.»
Herrick zögerte.»Und der Schiffsarzt, Sir?»
Bolitho schaute auf die Zofe hinab, die den tiefen Schnitt in seinem Arm säuberte. Sie erwiderte seinen Blick ohne Scheu.
«Ich bin einstweilen in guten Händen«, sagte er.»Über Mr. Whitmarsh werde ich nachdenken, wenn ich mehr Zeit habe.»
Bolitho stand wartend am offenen Heckfenster. Das Mondlicht zeichnete einen glitzernden Pfad auf das Wasser. Die See war ungewöhnlich bewegt, aber das rührte, wie er wußte, von einer Tiefenströmung her, die sich noch viele Meilen von der afrikanischen Küste entfernt bemerkbar machte. Eben kamen, hörte er, die anderen in die Kajüte und nahmen am Tisch Platz. Gläser klirrten, Wein wurde eingeschenkt; Noddall tat seine Arbeit. Trotz der Kühle nach des Tages Sonnenglut fühlte er sich ausgedörrt und steif. Um ihn herum knarrte und stöhnte das Schiff in seinen ausgetrockneten Planken; ein Wunder, daß es nicht leckte wie ein alter Bottich.