Eine Woche war jetzt vergangen, seit Sullivan in den Tod gesprungen war. Sieben lange Tage, in denen sein Schiff wieder und wieder die Küste angesteuert hatte; aber jedesmal war irgendwo ein Segel oder auch nur ein Eingeborenenfahrzeug gesichtet worden, und er hatte wieder abgedreht.
Jetzt durfte er es nicht länger aufschieben. Nachmittags war Whitmarsh bei ihm gewesen. Der Mann hatte so viele eigene Probleme, daß eine Unterredung mit ihm schwierig gewesen war.
Immerhin hatte der Arzt klar und deutlich erklärt, daß er die Verantwortung für die Gesundheit der Mannschaft nicht mehr übernehmen konnte, wenn Bolitho weiter darauf bestand, sich vom Land fernzuhalten. Die beiden verbliebenen Fässer Trinkwasser waren fast leer, und der Rest konnte kaum noch Wasser genannt werden — es war eher Schlamm. Immer mehr Männer lagen krank im Orlopdeck; und die, welche noch dienstfähig waren, durfte man keine Minute lang unbewacht lassen. Ständig gab es Streit und Wutausbrüche; und die Deckoffiziere mußten auch im Hinterkopf Augen haben, damit sie nicht ein Messer in den Rücken bekamen.
Herrick meldete:»Alle anwesend, Sir. «Er war wie die anderen gespannt und argwöhnisch.
Bolitho wandte sich um und musterte seine Offiziere. Alle waren da außer Soames, der die Wache hatte, sogar die drei Midshipmen. Er sah sie nachdenklich an. Das Kommende mochte ihnen eine Lehre für später sein.
«Ich beabsichtige, morgen wieder Kurs aufs Land zu nehmen.»
Don Puigserver und sein Leutnant standen beim Schott; Raymond, etwas entfernt von ihnen, rieb sich das Kinn mit ruckartigen, nervösen Bewegungen.
Davy sagte:»Ausgezeichnet, Sir«, und trank einen Schluck Wein.»Wenn wir den Leuten noch mehr Rum und noch weniger Wasser geben«, fuhr er fort,»sind sie bald zu blau, um auch nur einen Finger zu rühren. «Er zwang sich ein Lächeln ab.»Eine schöne Bescherung wäre das.»
Bolitho wandte sich Mudge zu. Der saß im breitesten Sessel, trug wie immer seinen dicken Rock und starrte zum offenen Oberlicht hinauf, wo eine Motte im Licht der Deckenlampe tanzte. Dann blickte er in Bolithos Gesicht und seufzte.
«Ich war nur einmal an dieser Küste, Sir. Als Steuermannsmaat auf der Windsor, einem Indienfahrer. Wir steckten damals in derselben Klemme: kein Wasser, wochenlang Flaute, die halbe Mannschaft verrückt vor Durst.»
«Aber es gibt dort tatsächlich Wasser?«fragte Bolitho.
Der Alte rutschte in seinem Stuhl mit kurzen knarrenden Rucken zum Tisch hinüber und tippte auf die dort ausgebreitete Karte.»Wir sind jetzt in der Straße von Mozambique, das wissen wir alle. «Wütend glotzte er Midshipman Armitage an.»Abgesehen von ein paar, die zu blöd sind, um Navigation zu lernen. «In etwas milderem Ton fuhr er fort:»Die afrikanische Küste ist hier ziemlich wild und noch wenig erforscht. Schiffe laufen sie natürlich hin und wieder an, wegen Wasser. Oder vielleicht 'n bißchen Handel. Und manchmal auch, um schwarzes Elfenbein zu laden.»
Midshipman Keen, der einzige, dessen Gesicht nicht von Überanstrengung gezeichnet war, blickte Mudge erstaunt an.»Schwarzes Elfenbein, Sir?»
«Sklaven«, sagte Herrick scharf. Mudge lehnte sich behaglich zurück.»Folglich müssen wir vorsichtig sein. Mit 'ner ausreichenden Truppe an Land gehen, das Wasser einnehmen, wenn ich tatsächlich noch weiß, wo welches ist, und dann gleich wieder auf See.»
«Meine Soldaten machen das schon«, warf Hauptmann Bellairs ein.
Mudge warf ihm einen zornigen Blick zu.»Genau, Sir! In ihren hübschen roten Röcken, mit Trommeln und Pfeifen — ein schönes Bild, stelle ich mir vor. «Grob fügte er hinzu:»Die Wilden werden sie zum Frühstück fressen, ehe sie auch nur ihre verdammten Stiefel putzen können!»
«Hören Sie mal!«Bellairs war ehrlich schockiert.
Bolitho nickte.»Also gut. Der Wind steht richtig, wir müßten morgen gegen Mittag ankern können.»
«Aye«, stimmte Mudge zu.»Aber nicht zu dicht unter Land, Sir. Denn ein ganzes Stück vor der Landspitze liegt ein Riff. Das heißt: alle Boote zu Wasser und ein langer Pull für die Leute.»
«Ja. «Bolitho sah Davy an.»Sie besprechen mit dem Stückmeister die Bewaffnung der einzelnen Boote. Drehbassen für Pinaß und Kutter, Standmusketen für die anderen Boote. «Er blickte in die aufmerksamen Gesichter.»Und ein Offizier pro Boot. Auf manche von unseren Leuten müssen wir scharf aufpassen, und sei es auch nur zu ihrem eigenen Besten. «Er ließ die Worte wirken.»Denken Sie immer daran: die meisten sind in solchen Unternehmungen völlig unerfahren; nur weil wir jetzt zwei Monate zusammen sind, kommen sie Ihnen vielleicht wie befahrene Seeleute vor. Doch das sind sie nicht; also behandeln Sie sie entsprechend! Führen Sie sie und überlassen Sie das nicht anderen weniger Qualifizierten.»
Er bemerkte, daß die Midshipmen Blicke tauschten wie Schuljungen vor einem Streich. Keens Augen glitzerten vor Erregung. Der kleine Penn war offensichtlich stolz, für voll genommen zu werden. Dem unglückseligen Armitage hatte die Sonne die Stirn verbrannt, weil er ein paar Minuten lang ohne Hut an Deck gewe sen war. Diese beiden Kerlchen waren leider noch unerfahrener als die meisten Matrosen.
Bolitho sah auf die Karte. Wenn Sullivan nicht gewesen wäre, hätten sie die ganze Reise bis Madras ohne Unterbrechung geschafft, trotz der Ausfälle durch Krankheit. Herrick hatte ihm helfen wollen, indem er sagte, es sei eben Pech; Puigserver hatte ihm versichert, er stehe bei jeder Entscheidung über das Wohl des Schiffes hinter ihm. Aber es waren eben seine Entscheidungen, daran konnte niemand etwas ändern.
Unter den Anwesenden waren mehrere, die mit dem Schiffsarzt überhaupt nicht mehr sprachen; und vielleicht nur aus diesem Grund hatte Bolitho nichts weiter dazu gesagt, daß Whitmarsh sich ausgerechnet Sullivan als Helfer ausgesucht und ihm, mochte er nun verrückt gewesen sein oder nicht, Gelegenheit gegeben hatte, das Wasser zu verderben. Er sah den Doktor nur beim Krankenstandsbericht und war jedesmal erschüttert über den Zustand des Mannes: verbittert, innerlich kochend und dabei unfähig, seine Probleme mit anderen zu besprechen. Er versuchte es nicht einmal.
Bolitho hörte eine Frauenstimme, und die anderen sahen zum Oberlicht hoch, wo an Deck Schritte zu vernehmen waren: Mrs. Raymond und ihre Zofe beim gewohnten Spaziergang unter dem Sternenhimmel. Hoffentlich paßte Soames auf, daß sie das Achterdeck nicht verließen. Er konnte für ihre Sicherheit nicht garantieren, wenn sie gewissen Matrosen vor die Hände liefen. Bolitho wußte genau, welche Gefühle die Mannschaft hegte.
Den Freiwilligen mußte es ziemlich anders vorkommen, als die Rekrutierungsplakate ihnen versprochen hatten; und die Männer von den Gefängnishulken meinten jetzt vielleicht, sie hätten einen schlechten Tausch gemacht. Selbst flüchtige Verbrecher mochten von Zweifel und Reue geplagt werden. Ihre Verbrechen kamen ihnen nun, da sie Festnahme und Prozeß nicht mehr zu fürchten hatten, wohl weniger bedrohlich vor als Hitze, Durst und die tägliche Qual von Dienst und Disziplin.
Er sah, wie Raymond sich auf die Lippen biß, während seine Augen dem Klang der sich entfernenden Schritte folgten, als könne er durch die Decksplanken sehen. Gerade in der Enge des Schiffes entfremdeten sich seine Frau und er immer mehr. Es war schon eine seltsame Ehe.
Bolitho erinnerte sich an ein Vorkommnis der letzten Tage. Im Kartenraum, der ihm als Behelfskajüte diente, hatte Allday ihm soeben den Arm neu verbunden. Mrs. Raymond war ohne vorher anzuklopfen eingetreten; weder er noch Allday hatten sie kommen gehört. Gelassen stand sie an der offenen Stückpforte und sah wortlos zu. Bolitho war bis zum Gürtel nackt, und als er nach seinem frischen Hemd griff, hatte sie leise bemerkt:»Wie ich sehe, haben Sie noch eine andere Narbe, Captain.»
Bolitho hatte sich an die Rippen gefaßt und war sich plötzlich des rissigen Wundmales bewußt geworden, das von einem Pistolenschuß zurückgeblieben war. Grob hatte Allday gesagt:»Der Captain ist beim Anziehen, Madam! An Land sind die Sitten anscheinend anders als an Bord!«Aber sie war ruhig stehengeblieben und hatte ihn mit halbgeöffneten Lippen angesehen. Doch wie konnte sie verstehen, woran er dachte? An den Gegner, der auf ihn geschossen hatte: ein Offizier seines eigenen Bruders, der ein Verräter war, ein steckbrieflich gesuchter Renegat. Jetzt war Hugh tot und von den meisten, die ihn gekannt hatten, vergessen. Aber nicht von mir.