Da wir Madame Gaillard an dieser Stelle der Geschichte verlassen und ihr auch später nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen wir in ein paar Sätzen das Ende ihrer Tage schildern. Madame, obwohl als Kind schon innerlich gestorben, wurde zu ihrem Unglück sehr, sehr alt. Anno 1782, mit fast siebzig Jahren, gab sie ihr Gewerbe auf, kaufte sich wie vorgehabt in eine Rente ein, saß in ihrem Häuschen und wartete auf den Tod. Der Tod aber kam nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt hätte rechnen können und was es im Lande noch nie gegeben hatte, nämlich eine Revolution, das heisst eine rasante Umwandlung sämtlicher gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verhältnisse. Zunächst hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards persönliches Schicksal. Dann aber – sie war nun fast achtzig – hieß es mit einem Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren müssen, sei enteignet und sein Besitz an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen für Madame Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin pünktlich die Rente. Aber dann kam der Tag, da sie ihr Geld nicht mehr in harter Münze, sondern in Form von kleinen bedruckten Papierblättchen erhielt, und das war der Anfang ihres materiellen Endes.
Nach Verlauf von zwei Jahren reichte die Rente nicht einmal mehr aus, das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen, zu lächerlich geringem Preis, denn es gab plötzlich außer ihr Tausende von anderen Leuten, die ihr Haus ebenfalls verkaufen mussten. Und wieder bekam sie als Gegenwert nur diese blöden Blättchen, und wieder waren sie nach zwei Jahren so gut wie nichts mehr wert, und im Jahre 1797 – sie ging nun auf die Neunzig zu – hatte sie ihr gesamtes, in mühevoller säkularer Arbeit zusammengescharrtes Vermögen verloren und hauste in einer winzigen möblierten Kammer in der Rue des Coquilles. Und nun erst, mit zehn-, mit zwanzigjähriger Verspätung, kam der Tod herbei und kam in Gestalt einer langwierigen Geschwulstkrankheit, die Madame an der Kehle packte und ihr erst den Appetit und dann die Stimme raubte, so dass sie mit keinem Wort Einspruch erheben konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde. Dort brachte man sie in den gleichen, von Hunderten todkranker Menschen bevölkerten Saal, in dem schon ihr Mann gestorben war, steckte sie in ein Gemeinschaftsbett zu fünf anderen alten wildfremden Weibern, körperdicht Leib an Leib lagen sie, und ließ sie dort drei Wochen lang in aller Öffentlichkeit sterben. Dann wurde sie in einen Sack genäht, um vier Uhr früh nebst fünfzig anderen Leichen auf einen Transportkarren geworfen und unter dem dünnen Gebimmel eines Glöckchens zum neubegründeten Friedhof von Clamart, eine Meile vor den Toren der Stadt, gefahren und dort in einem Massengrab zur letzten Ruhe gebettet, unter einer dicken Schicht von ungelöschtem Kalk.
Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr bevorstehenden Schicksal, als sie an jenem Tag des Jahres 1747 nach Hause ging und den Knaben Grenouille und unsere Geschichte verließ. Sie hätte womöglich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens.
6
Mit dem ersten Blick, den er auf Monsieur Grimal geworfen – nein, mit dem ersten witternden Atemzug, den er von Grimals Geruchsaura eingesogen hatte, wusste Grenouille, dass dieser Mann imstande war, ihn bei der geringsten Unbotmäßigkeit zu Tode zu prügeln. Sein Leben galt gerade noch so viel wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch aus der Nützlichkeit, die Grimal ihm beimaß. Und so kuschte Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den Versuch einer Auflehnung zu machen. Von einem Tag zum ändern verkapselte er wieder die ganze Energie seines Trotzes und seiner Widerborstigkeit in sich selbst, verwendete sie allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu überdauern: zäh, genügsam, unauffällig, das Licht der Lebenshoffnung auf kleinster, aber wohlbehüteter Flamme haltend. Er war nun ein Muster an Fügsamkeit, Anspruchslosigkeit und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav in einen seitlich an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Gerätschaften aufbewahrt wurden und eingesalzne Rohhäute hingen. Hier schlief er auf dem blanken gestampften Erdboden. Tagsüber arbeitete er, solange es hell war, im Winter acht, im Sommer vierzehn, fünfzehn, sechzehn Stunden: entfleischte die bestialisch stinkenden Häute, wässerte, enthaarte, kalkte, ätzte, walkte sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben, stieg hinab in die von beißendem Dunst erfüllten Lohgruben, schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, Häute und Rinden übereinander, streute zerquetschte Galläpfel aus, überdeckte den entsetzlichen Scheiterhaufen mit Eibenzweigen und Erde. Jahre später musste er ihn dann wieder ausbuddeln und die zu gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus ihrem Grab holen. Wenn er nicht Häute ein- oder ausgrub, dann schleppte er Wasser. Monatelang schleppte er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer, Hunderte von Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser zum Waschen, zum Weichen, zum Brühen, zum Färben. Monatelang hatte er keine trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die Kleider von Wasser, und seine Haut war kalt, weich und aufgeschwemmt wie Waschleder.
Nach einem Jahr dieser mehr tierischen als menschlichen Existenz bekam er den Milzbrand, eine gefürchtete Gerberkrankheit, die üblicherweise tödlich verläuft. Grimal hatte ihn schon abgeschrieben und sah sich nach Ersatz um – nicht ohne Bedauern übrigens, denn einen genügsameren und leistungsfähigeren Arbeiter als diesen Grenouille hatte er noch nie gehabt. Entgegen aller Erwartung jedoch überstand Grenouille die Krankheit. Ihm blieben nur die Narben der großen schwarzen Karbunkel hinter den Ohren, am Hals und an den Wangen, die ihn entstellten und noch häßlicher machten, als er ohnehin schon war. Ihm blieb ferner – unschätzbarer Vorteil – eine Resistenz gegen den Milzbrand, so dass er von nun an sogar mit rissigen und blutigen Händen die schlechtesten Häute entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch unterschied er sich nicht nur von den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch von seinen eigenen potentiellen Nachfolgern. Und weil er nun nicht mehr so leicht zu ersetzen war wie ehedem, stieg der Wert seiner Arbeit und damit der Wert seines Lebens. Plötzlich musste er nicht mehr auf der nackten Erde schlafen, sondern durfte sich im Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh daraufgeschüttet und eine eigene Decke. Zum Schlafen sperrte man ihn nicht mehr ein. Das Essen war auskömmlicher. Grimal hielt ihn nicht mehr wie irgendein Tier, sondern wie ein nützliches Haustier.
Als er zwölf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde lang weggehen und tun, was er wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und er besaß ein Quantum von Freiheit, das genügte, um weiterzuleben. Die Zeit des Überwinterns war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das größte Geruchsrevier der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris.