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Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und hutschte ihn sachte. Das Kind schlief noch immer fest. Seine rechte Faust schaute unter der Decke hervor, klein und rot, und zuckte manchmal rührend gegen die Wange. Terrier lächelte und kam sich plötzlich sehr gemütlich vor. Für einen Moment gestattete er sich den phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des Kindes. Er wäre kein Mönch geworden, sondern ein normaler Bürger, ein rechtschaffener Handwerker vielleicht, hätte ein Weib genommen, ein warmes wollig und milchig duftendes Weib, und hätte mit ihr einen Sohn gezeugt und hutschte ihn nun hier auf seinen eigenen Knien, sein eigenes Kind, duziduziduzi… Es war ihm wohl bei diesem Gedanken. Der Gedanke hatte etwas so Ordentliches. Ein Vater hutscht seinen Sohn auf den Knien, duziduzi, es war ein Bild so alt wie die Welt und immer ein neues und richtiges Bild, solange die Welt bestand, ach ja! Es wurde Terrier ein bisschen warm ums Herz und sentimental im Gemüt.

Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase bewegte sich, sie zog sich nach oben und schnupperte. Sie sog die Luft ein und schnaubte sie in kurzen Stößen aus, wie bei einem unvollkommenen Niesen. Dann rümpfte sich die Nase, und das Kind tat die Augen auf. Die Augen waren von unbestimmter Farbe, zwischen austerngrau und opalweiß-cremig, von einer Art schleimigem Schleier überzogen und offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck, dass sie ihn gar nicht gewahrten. Anders die Nase. Während die matten Augen des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu fixieren, und Terrier hatte das sehr sonderbare Gefühl, als sei dieses Ziel er, seine Person, Terrier selbst. Die winzigen Nasenflügel um die zwei winzigen Löcher mitten im Gesicht des Kindes blähten sich wie eine aufgehende Blüte. Oder eher wie die Näpfe jener kleinen fleischfressenden Pflanzen, die man im botanischen Garten des Königs hielt. Und wie von diesen schien ein unheimlicher Sog von ihnen auszugehen. Es war Terrier, als sehe ihn das Kind mit seinen Nüstern, als sehe es ihn scharf und prüfend an, durchdringender, als man es mit Augen könnte, als verschlänge es etwas mit seiner Nase, das von ihm, Terrier, ausging, und das er nicht zurückhalten und nicht verbergen konnte… Das geruchlose Kind roch ihn schamlos ab, so war es! Es witterte ihn aus! Und er kam sich mit einem Mal stinkend vor, nach Schweiß und Essig, nach Sauerkraut und ungewaschenen Kleidern. Er kam sich nackt und häßlich vor, wie begafft von jemandem, der seinerseits nichts von sich preisgab. Selbst durch seine Haut schien es hindurchzuriechen, in sein Innerstes hinein. Die zartesten Gefühle, die schmutzigsten Gedanken lagen bloß vor dieser gierigen kleinen Nase, die noch gar keine rechte Nase war, sondern nur ein Stups, ein sich ständig kräuselndes und blähendes und bebendes winziges löchriges Organ. Terrier schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas Übelriechendem, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Vorbei der anheimelnde Gedanke, es handle sich ums eigne Fleisch und Blut. Zerstoben das sentimentale Idyll von Vater und Sohn und duftender Mutter. Wie weggerissen der gemütlich umhüllende Gedankenschleier, den er sich um das Kind und sich selbst zurecht phantasiert hatte: Ein fremdes, kaltes Wesen lag auf seinen Knien, ein feindseliges Animal, und wenn er nicht ein so besonnener und von Gottesfurcht und rationaler Einsicht geleiteter Charakter gewesen wäre, so hätte er es in einem Anflug von Ekel wie eine Spinne von sich geschleudert.

Mit einem Ruck stand Terrier auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er wollte das Ding loshaben, möglichst schnell, möglichst gleich, möglichst sofort.

Und da begann es zu schreien. Es kniff die Augen zusammen, riss seinen roten Schlund auf und kreischte so widerwärtig schrill, dass Terrier das Blut in den Adern erstarrte. Er schüttelte den Korb mit ausgestreckter Hand und schrie »Duziduzi«, um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es brüllte nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor Brüllen zerplatzen.

Weg damit! dachte Terrier, augenblicklich weg mit diesem… >Teufel< wollte er sagen und riss sich zusammen und verkniff es sich,… weg mit diesem Unhold, mit diesem unerträglichen Kind! Aber wohin? Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenhäuser im Quartier, aber das war ihm zu nah, zu dicht auf der Haut war ihm das, weiter weg musste das Ding, so weit, dass man's nicht hörte, so weit, dass man's ihm nicht jede Stunde wieder vor die Türe stellen konnte, nach Möglichkeit musste es in einen anderen Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am allerbesten extra muros, in den Faubourg Saint-Antoine, das war's!, dahin kam der schreiende Balg, weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloss.

Und er raffte seine Soutane und ergriff den brüllenden Korb und rannte davon, rannte durch das Gassengewirr zur Rue du Faubourg Saint-Antoine, die Seine hinauf nach Osten, zur Stadt hinaus, weit, weit hinaus bis zur Rue de Charonne und diese fast bis zum Ende, wo er, in der Nähe des Klosters der Madeleine de Trenelle, die Adresse einer gewissen Madame Gaillard kannte, welche Kostkinder jeglichen Alters und jeglicher Art aufnahm, solange nur jemand dafür zahlte, und dort gab er das immer noch schreiende Kind ab, zahlte für ein Jahr im voraus und floh zurück in die Stadt, warf, im Kloster angekommen, seine Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf bis Fuß und kroch in seiner Kammer ins Bett, wo er viele Kreuze schlug, lange betete und endlich erleichtert entschlief.

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Madame Gaillard, obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte das Leben schon hinter sich. Äußerlich sah sie so alt aus, wie es ihrem wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und dreimal und hundertmal so alt, nämlich wie die Mumie eines Mädchens; innerlich aber war sie längst tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken über die Stirn bekommen, knapp oberhalb der Nasenwurzel, und seither den Geruchssinn verloren und jedes Gefühl für menschliche Wärme und menschliche Kälte und überhaupt jede Leidenschaft. Zärtlichkeit war ihr mit diesem einen Schlag ebenso fremd geworden wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung. Sie empfand nichts, als sie später ein Mann beschlief, und ebenso nichts, als sie ihre Kinder gebar. Sie trauerte nicht über die, die ihr starben, und freute sich nicht an denen, die ihr blieben. Als ihr Mann sie prügelte, zuckte sie nicht, und sie verspürte keine Erleichterung, als er im Hotel-Dieu an der Cholera starb. Die zwei einzigen Sensationen, die sie kannte, waren eine ganz leichte Gemütsverdüsterung, wenn die monatliche Migräne nahte, und eine ganz leichte Gemütsaufhellung, wenn die Migräne wieder wich. Sonst spürte diese abgestorbene Frau nichts.

Auf der anderen Seite… oder vielleicht gerade wegen ihrer vollkommenen Emotionslosigkeit, besaß Madame Gaillard einen gnadenlosen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr anvertrauten Kinder und benachteiligte keines. Sie verabreichte drei Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen dreimal am Tag und nur bis zum zweiten Geburtstag. Wer danach noch in die Hose schiss, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige und eine Mahlzeit weniger. Exakt die Hälfte des Kostgelds verwandte sie für die Zöglinge, exakt die Hälfte behielt sie für sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht, ihren Gewinn zu erhöhen; aber sie legte in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol zu, auch nicht, wenn es auf Leben und Tod ging. Das Geschäft hätte sich sonst für sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das Geld. Sie hatte sich das ganz genau ausgerechnet. Im Alter wollte sie sich eine Rente kaufen und darüberhinaus noch so viel besitzen, dass sie es sich leisten konnte, zu Hause zu sterben und nicht im Hotel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod selbst hatte sie kaltgelassen. Aber ihr graute vor diesem öffentlichen gemeinsamen Sterben mit Hunderten von fremden Menschen. Sie wollte sich einen privaten Tod leisten, und dazu brauchte sie die volle Marge vom Kostgeld: Zwar, es gab Winter, da starben ihr von den zwei Dutzend kleinen Pensionären drei oder vier. Doch damit lag sie immer noch erheblich besser als die meisten anderen privaten Ziehmütter und übertraf die großen staatlichen oder kirchlichen Findelhäuser, deren Verlustquote oft neun Zehntel betrug, bei weitem. Es gab ja auch viel Ersatz. Paris produzierte im Jahr über zehntausend neue Findelkinder, Bastarde und Waisen. So ließ sich mancher Ausfall verschmerzen.

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