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Die Hand, die den Flakon umschlossen hatte, duftete ganz zart, und wenn er sie an seine Nase führte und schnupperte, dann wurde ihm wehmütig, und für ein paar Sekunden vergaß er zu laufen und blieb stehen und roch. Niemand weiß, wie gut dies Parfum wirklich ist, dachte er. Niemand weiß, wie gut es gemacht ist. Die andern sind nur seiner Wirkung untertan, ja, sie wissen nicht einmal, dass es ein Parfum ist, das auf sie wirkt und sie bezaubert. Der einzige, der es jemals in seiner wirklichen Schönheit erkannt hat, bin ich, weil ich es selbst geschaffen habe. Und zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der einzige, für den es sinnlos ist.

Und ein andermal, da war er schon in Burgund: Als ich an der Mauer stand, unterhalb des Gartens, in dem das rothaarige Mädchen spielte, und ihr Duft zu mir herüberwehte… oder vielmehr das Versprechen ihres Dufts, denn ihr späterer Duft existierte ja noch gar nicht – vielleicht war das, was ich damals empfand, demjenigen ähnlich, was die Menschen auf dem Cours empfanden, als ich sie mit meinem Parfum überschwemmte…? Aber dann verwarf er den Gedanken: Nein, es war etwas anderes. Denn ich wusste ja, dass ich den Duft begehrte, nicht das Mädchen. Die Menschen aber glaubten, sie begehrten mich, und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis.

Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine Stärke, und er war auch schon im Orleanais.

Er überquerte die Loire bei Sully. Einen Tag später hatte er den Duft von Paris in der Nase. Am 25. Juni 1767 betrat er die Stadt durch die Rue Saint-Jacques frühmorgens um sechs.

Es wurde ein heißer Tag, der heißeste bisher in diesem Jahr. Die tausendfältigen Gerüche und Gestänke quollen wie aus tausend aufgeplatzten Eiterbeulen. Kein Wind regte sich. Das Gemüse an den Marktständen erschlaffte, eh es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der Fluss schien nicht mehr zu fließen, sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag von Grenouilles Geburt.

Er ging über den Pont Neuf ans rechte Ufer, und weiter zu den Hallen und zum Cimetiere des Innocents. In den Arkaden der Gebeinhäuser längs der Rue aux Fers ließ er sich nieder. Das Gelände des Friedhofs lag wie ein zerbombtes Schlachtfeld vor ihm, zerwühlt, zerfurcht, von Gräben durchzogen, von Schädeln und Gebeinen übersät, ohne Baum, Strauch oder Grashalm, eine Schutthalde des Todes.

Kein lebender Mensch ließ sich blicken. Der Leichengestank war so schwer, dass selbst die Totengräber sich verzogen hatten. Sie kamen erst nach Sonnenuntergang wieder, um bei Fackellicht bis in die Nacht hinein Gruben für die Toten des nächsten Tages auszuheben.

Nach Mitternacht erst – die Totengräber waren schon gegangen – belebte sich der Ort mit allem möglichen Gesindel, Dieben, Mördern, Messerstechern, Huren, Deserteuren, jugendlichen Desperados. Ein kleines Lagerfeuer wurde angezündet, zum Kochen und damit sich der Gestank verzehre.

Als Grenouille aus den Arkaden kam und sich unter diese Menschen mischte, nahmen sie ihn zunächst gar nicht wahr. Er konnte unbehelligt an ihr Feuer treten, als sei er einer von ihnen. Das bestärkte sie später in der Meinung, es müsse sich bei ihm um einen Geist oder einen Engel oder sonst etwas Übernatürliches gehandelt haben. Denn üblicherweise reagierten sie höchst empfindlich auf die Nähe eines Fremden.

Der kleine Mann in seinem blauen Rock aber sei plötzlich einfach dagewesen, wie aus dem Boden herausgewachsen, mit einem kleinen Fläschchen in der Hand, das er entstöpselte. Dies war das erste, woran sich alle erinnern konnten: dass da einer stand und ein Fläschchen entstöpselte. Und dann habe er sich mit dem Inhalt dieses Fläschchens über und über besprenkelt und sei mit einem Mal von Schönheit übergössen gewesen wie von strahlendem Feuer.

Für einen Moment wichen sie zurück aus Ehrfurcht und bassem Erstaunen. Aber im selben Moment spürten sie schon, dass das Zurückweichen mehr wie ein Anlaufnehmen war, dass ihre Ehrfurcht in Begehren umschlug, ihr Erstaunen in Begeisterung. Sie fühlten sich zu diesem Engelsmenschen hingezogen. Ein rabiater Sog ging von ihm aus, eine reißende Ebbe, gegen die kein Mensch sich stemmen konnte, um so weniger, als sich kein Mensch gegen sie hätte stemmen wollen, denn es war der Wille selbst, den diese Ebbe unterspülte und in ihre Richtung trieb: hin zu ihm.

Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, zwanzig, dreißig Personen und zogen diesen Kreis nun enger und enger. Bald fasste der Kreis sie nicht mehr alle, sie begannen zu drücken, zu schieben und zu drängeln, jeder wollte dem Zentrum am nächsten sein.

Und dann brach mit einem Schlag die letzte Hemmung in ihnen, der Kreis in sich zusammen. Sie stürzten sich auf den Engel, fielen über ihn her, rissen ihn zu Boden. Jeder wollte ihn berühren, jeder wollte einen Teil von ihm haben, ein Federchen, ein Flügelchen, einen Funken seines wunderbaren Feuers. Sie rissen ihm die Kleider, die Haare, die Haut vom Leibe, sie zerrupften ihn, sie schlugen ihre Krallen und Zähne in sein Fleisch, wie die Hyänen fielen sie über ihn her.

Aber so ein Menschenkörper ist ja zäh und lässt sich nicht so einfach auseinanderreißen, selbst Pferde haben da die größte Mühe. Und so blitzten bald die Dolche auf und stießen zu und schlitzten auf, und Äxte und Schlagmesser sausten auf die Gelenke herab, zerhieben krachend die Knochen. In kürzester Zeit war der Engel in dreißig Teile zerlegt, und ein jedes Mitglied der Rotte grapschte sich ein Stück, zog sich, von wollüstiger Gier getrieben, zurück und fraß es auf. Eine halbe Stunde später war Jean-Baptiste Grenouille in jeder Faser vom Erdboden verschwunden.

Als sich die Kannibalen nach gehabter Mahlzeit wieder m Feuer zusammenfanden, sprach keiner ein Wort. Der eine oder andere stieß ein wenig auf, spie ein Knöchelchen aus, schnalzte leise mit der Zunge, stupste mit dem Fuß einen übriggebliebenen Fetzen des blauen Rocks in die Flammen: Sie waren alle ein bisschen verlegen und trauten sich nicht, einander anzusehen. Einen Mord oder ein anderes niederträchtiges Verbrechen hatte jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, schon einmal begangen. Aber einen Menschen aufgefressen? Zu so etwas Entsetzlichem, dachten sie, seien sie nie und nimmer imstande. Und sie wunderten sich, wie leicht es ihnen doch gefallen war und dass sie, bei aller Verlegenheit, nicht den geringsten Anflug von schlechtem Gewissen verspürten. Im Gegenteil! Es war ihnen, wenngleich im Magen etwas schwer, im Herzen durchaus leicht zumute. In ihren finsteren Seelen schwankte es mit einem Mal so angenehm heiter. Und auf ihren Gesichtern lag ein mädchenhafter, zarter Glanz von Glück. Daher vielleicht die Scheu, den Blick zu heben und sich gegenseitig in die Augen zu sehen.

Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten sie lächeln. Sie waren außerordentlich stolz. Sie hatten zum ersten Mal etwas aus Liebe getan.

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