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Er blieb noch einige Wochen in Montpellier. Er hatte eine ziemliche Berühmtheit erlangt und wurde in die Salons eingeladen, wo man ihn nach seinem Höhlenleben und nach seiner Heilung durch den Marquis befragte. Immer wieder musste er die Geschichte von den Räubern erzählen, die ihn verschleppt hatten, und von dem Korb, der herabgelassen wurde, und von der Leiter. Und jedesmal schmückte er sie prächtiger aus und erfand neue Details hinzu. So bekam er wieder eine gewisse Übung im Sprechen – freilich eine sehr beschränkte, denn mit der Sprache hatte er es zeitlebens nicht – und, was ihm wichtiger war, einen routinierteren Umgang mit der Lüge.
Im Grunde, so stellte er fest, konnte er den Leuten erzählen, was er wollte. Wenn sie einmal Vertrauen gefasst hatten – und sie fassten Vertrauen zu ihm mit dem ersten Atemzug, den sie von seinem künstlichen Geruch inhalierten – , dann glaubten sie alles. Er bekam des weiteren eine gewisse Sicherheit im gesellschaftlichen Umgang, wie er sie niemals besessen hatte. Sie drückte sich sogar körperlich aus. Es war, als sei er gewachsen. Sein Buckel schien zu schwinden. Er ging beinahe vollkommen aufrecht. Und wenn er angesprochen wurde, so zuckte er nicht mehr zusammen, sondern blieb aufrecht stehen und hielt den auf ihn gerichteten Blicken stand. Freilich, es wurde in dieser Zeit kein Mann von Welt aus ihm, kein Salonlöwe oder souveräner Gesellschafter. Aber es fiel doch zusehends das Verdruckte, Linkische von ihm ab und machte einer Haltung Platz, die als natürliche Bescheidenheit oder allenfalls als eine leichte angeborene Schüchternheit gedeutet wurde und die auf manchen Herrn und manche Dame einen anrührenden Eindruck machte – man hatte damals in mondänen Kreisen ein Faible fürs Natürliche und für eine Art ungehobelten Charmes.
Anfang März packte er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags in aller Früh, kaum dass die Tore geöffnet waren, bekleidet mit einem unscheinbaren braunen Rock, den er am Vortag auf dem Altkleidermarkt erworben hatte, und einem schäbigen Hut, der sein Gesicht halb verdeckte. Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem Tag mit Vorbedacht auf sein Parfum verzichtet. Und als der Marquis gegen Mittag Nachforschungen anstellen ließ, schworen die Wachen Stein und Bein, sie hätten zwar alle möglichen Leute die Stadt verlassen gesehen, nicht aber jenen bekannten Höhlenmenschen, der ihnen ganz bestimmt aufgefallen wäre. Der Marquis ließ daraufhin verbreiten, Grenouille habe Montpellier mit seinem Einverständnis verlassen, um in Familienangelegenheiten nach Paris zu reisen. Insgeheim ärgerte er sich allerdings fürchterlich, denn er hatte vorgehabt, mit Grenouille eine Tournee durch das ganze Königreich zu unternehmen, um Anhänger für seine Fluidaltheorie zu werben.
Nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete sich auch ohne Tournee, fast ohne sein Zutun. Es erschienen lange Artikel über das fluidum letale Taillade im >Journal des Sçavans< und sogar im >Courier de l'Europe<, und von weit her kamen letalverseuchte Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764 gründete er die erste >Loge des vitalen Fluidums<, die in Montpellier 120 Mitglieder zählte und Zweigstellen in Marseille und Lyon einrichtete. Dann beschloss er, den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt für seine Lehre zu erobern, wollte vorher aber noch zur propagandistischen Unterstützung seines Feldzugs eine fluidale Großtat vollbringen, welche die Heilung des Höhlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den Schatten stellte, und ließ sich Anfang Dezember von einer Gruppe unerschrockener Adepten zu einer Expedition auf den Pic du Canigou begleiten, der auf demselben Meridian wie Paris lag und für den höchsten Berg der Pyrenäen galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Mann wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei Wochen lang der schiersten, frischesten Vitalluft aussetzen, um, wie er verkündigte, pünktlich am Heiligen Abend als kregler Jüngling von zwanzig Jahren wieder herabzusteigen.
Die Adepten gaben schon kurz hinter Vernet, der letzten menschlichen Siedlung am Fuße des fürchterlichen Gebirges, auf. Den Marquis jedoch focht nichts an. In der Eiseskälte seine Kleider von sich werfend und laute Jauchzer ausstoßend, begann er den Aufstieg allein. Das letzte, was von ihm gesehen wurde, war seine Silhouette, die mit ekstatisch zum Himmel erhobenen Händen und singend im Schneesturm verschwand.
Am Heiligen Abend warteten die Jünger vergebens auf die Wiederkunft des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis noch als Jüngling. Auch im Frühsommer des nächsten Jahres, als sich die Wagemutigsten auf die Suche machten und den noch immer verschneiten Gipfel des Pic du Canigou erklommen, fand sich nichts mehr von ihm, kein Kleidungsstück, kein Körperteil, kein Knöchelchen.
Seiner Lehre tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ging bald die Sage, er habe sich auf der Spitze des Berges mit dem ewigen Vitalfluidum vermählt, sich in es und es in sich aufgelöst und schwebe fortan unsichtbar, aber in ewiger Jugend über den Gipfeln der Pyrenäen, und wer hinaufsteige zu ihm, der werde seiner teilhaftig und bliebe ein Jahr lang von Krankheit und vom Prozess des Alterns verschont. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an manchem medizinischen Lehrstuhl verfochten und in vielen okkulten Vereinen therapeutisch angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyrenäen, namentlich in Perpignan und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die sich einmal im Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen.
Dort zünden sie ein großes Feuer an, vorgeblich aus Anlass der Sonnenwende und zu Ehren des heiligen Johannes – in Wirklichkeit aber, um ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen und um das ewige Leben zu erlangen.
DRITTER TEIL
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Während Grenouille für die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die Städte nicht mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte Selbstvertrauen, und er hatte es eilig.
Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt südwestlich von Aigues-Mortes, wo er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff, das ihn weiter die Küste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage später war er in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinwärts nach Norden führte, die Hügel hinauf.
Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher Schüssel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden Hügeln und schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten Feldern, Gärten und Olivenhainen überzogen war. Es lag ein völlig eignes, sonderbar intimes Klima über dieser Schüssel. Obwohl das Meer so nah war, dass man es von den Hügelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille Abgeschiedenheit, ganz so, als wäre man viele Tagesreisen von der Küste entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf denen noch der Schnee lag und noch lange liegen würde, war hier nichts Rauhes oder Karges zu spüren und kein kalter Wind. Der Frühling war weiter vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie eine gläserne Glocke. Aprikosen- und Mandelbäume blühten, und die warme Luft durchzog der Duft von Narzissen.