Литмир - Электронная Библиотека
A
A

»Gut riecht er«, sagte die Amme.

»Was heisst >gut

Die Amme zögerte. Sie wusste wohl, wie Säuglinge rochen, sie wusste es ganz genau, sie hatte doch schon Dutzende genährt, gepflegt, geschaukelt, geküsst… sie konnte sie nachts mit der Nase finden, sie trug den Säuglingsgeruch selbst jetzt deutlich in der Nase. Aber sie hatte ihn noch nie mit Worten bezeichnet.

»Na?« bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingernägeln.

»Also – «, begann die Amme, »es ist nicht ganz leicht zu sagen, weil… weil, sie riechen nicht überall gleich, obwohl sie überall gut riechen, Pater, verstehen Sie, also an den Füßen zum Beispiel, da riechen sie wie ein glatter warmer Stein – nein eher wie Topfen… oder wie Butter, wie frische Butter, ja genau: wie frische Butter riechen sie. Und am Körper riechen sie wie … wie eine Galette, die man in Milch gelegt hat. Und am Kopf, da oben, hinten auf dem Kopf, wo das Haar den Wirbel macht, da, schauen Sie, Pater, da, wo bei Ihnen nichts mehr ist…«, und sie tippte Terrier, der über diesen Schwall detaillierter Dummheit für einen Moment sprachlos geworden war und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die Glatze, »… hier, genau hier, da riechen sie am besten. Da riechen sie nach Karamel, das riecht so süß, so wunderbar, Pater, Sie machen sich keine Vorstellung! Wenn man sie da gerochen hat, dann liebt man sie, ganz gleich ob es die eignen oder fremde sind. Und so und nicht anders müssen kleine Kinder riechen. Und wenn sie nicht so riechen, wenn sie da oben gar nicht riechen, noch weniger als kalte Luft, so wie der da, der Bastard, dann… Sie können das erklären, wie Sie wollen, Pater, aber ich« – und sie verschränkte entschlossen die Arme unter ihrem Busen und warf einen so angeekelten Blick auf den Henkelkorb zu ihren Füßen, als enthielte er Kröten – , »ich, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!«

Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr sich ein paarmal mit dem Finger über die Glatze, als wolle er dort Haare ordnen, legte den Finger wie zufällig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich.

»Wie Karamel…?« fragte er und versuchte, seinen strengen Ton wiederzufinden… »Karamel! Was weisst du von Karamel? Hast du schon mal welches gegessen?«

»Nicht direkt«, sagte die Amme. »Aber ich war einmal in einem großen Hotel in der Rue Saint-Honore und habe zugesehen, wie es gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, dass ich es nicht mehr vergessen habe.«

»Jaja. Schon recht«, sagte Terrier und entfernte den Finger von der Nase. »Bitte schweige jetzt! Es ist für mich überaus anstrengend, mich weiterhin auf diesem Niveau mit dir zu unterhalten. Ich stelle fest, du weigerst dich, aus welchen Gründen auch immer, den dir anvertrauten Säugling Jean-Baptiste Grenouille weiter zu ernähren, und erstattest ihn hiermit seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zurück. Ich finde das betrüblich, aber ich kann es wohl nicht ändern. Du bist entlassen.«

Damit packte er den Henkelkorb, nahm noch einen Atemzug von dem verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf das Tor ins Schloss. Dann ging er in sein Büro.

3

Pater Terrier war ein gebildeter Mann. Er hatte nicht nur Theologie studiert, sondern auch die Philosophen gelesen und beschäftigte sich nebenbei mit Botanik und Alchemie. Er hielt einiges auf die Kraft seines kritischen Geistes. Zwar wäre er nicht so weit gegangen, wie manche es taten, die Wunder, die Orakel oder die Wahrheit der Texte der Heiligen Schrift in Frage zu stellen, auch wenn sie strenggenommen mit Vernunft allein nicht zu erklären waren, ja dieser sogar oft direkt widersprachen. Von solchen Problemen ließ er lieber seine Finger, sie waren ihm zu ungemütlich und würden ihn nur in die peinlichste Unsicherheit und Unruhe stürzen, wo man doch, gerade um sich seiner Vernunft zu bedienen, der Sicherheit und der Ruhe bedurfte. Was er aber aufs entschiedenste bekämpfte, waren die abergläubischen Vorstellungen des einfachen Volkes: Hexerei und Kartenlesen, Amulettgetrage, böser Blick, Beschwörungen, Vollmondhokuspokus und was sie sonst noch alles trieben – es war ja tief deprimierend zu sehen, dass solche heidnischen Gebräuche nach über tausendjähriger fester Installation der christlichen Religion immer noch nicht ausgerottet waren! Auch die meisten Fälle von sogenannter Teufelsbesessenheit und Satansbündelei erwiesen sich bei näherer Betrachtung als abergläubisches Spektakel. Zwar, die Existenz des Satans selbst zu leugnen, seine Macht zu bezweifeln – so weit würde Terrier nicht gehen; solche Probleme zu entscheiden, die die Grundfesten der Theologie berührten, waren andere Instanzen berufen als ein kleiner einfacher Mönch. Auf der anderen Seite lag es klar zutage, dass, wenn eine einfältige Person wie jene Amme behauptete, sie habe einen Teufelsspuk entdeckt, der Teufel nie und nimmer seine Hand im Spiel haben konnte. Gerade dass sie ihn entdeckt zu haben glaubte, war ein sicherer Beweis dafür, dass da nichts Teuflisches zu entdecken war, denn so dumm stellte sich der Teufel auch wieder nicht an, dass er sich von der Amme Jeanne Bussie entlarven ließ. Und noch dazu mit der Nase! Mit dem primitiven Geruchsorgan, dem niedrigsten der Sinne! Als röche die Hölle nach Schwefel und das Paradies nach Weihrauch und Myrrhe! Schlimmster Aberglaube, wie in dunkelster heidnischster Vorzeit, als die Menschen noch wie Tiere lebten, als sie noch keine scharfen Augen besaßen, die Farbe nicht kannten, aber Blut riechen zu können glaubten, meinten, Freund von Feind zu erriechen, von kannibalischen Riesen und Werwölfen gewittert und von Erinnyen gerochen zu werden, und ihren scheußlichen Göttern stinkende, qualmende Brandopfer brachten. Entsetzlich! >Es sieht der Narr mit der Nase< mehr als mit den Augen, und wahrscheinlich musste das Licht der gottgegebenen Vernunft noch tausend weitere Jahre leuchten, ehe die letzten Reste des primitiven Glaubens verscheucht waren.

»Ach, und das arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem Korb und schlummert, ahnt nichts von den ekligen Verdächtigungen, die gegen es erhoben werden. Du röchest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt die unverschämte Person zu behaupten. Ja, was sagen wir denn dazu? Duziduzi!«

Und er wiegte den Korb sachte auf den Knien, streichelte dem Säugling mit dem Finger über den Kopf und sagte von Zeit zu Zeit »duziduzi«, was er für einen auf Kleinkinder zärtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt. »Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!«

Nach einer Weile zog er den Finger zurück, hielt ihn sich unter die Nase, schnupperte, roch aber nichts als das Sauerkraut, das er mittags gegessen hatte. Er zögerte einen Moment, blickte sich um, ob ihn auch niemand beobachte, hob den Korb empor, senkte seine dicke Nase hinein. Ganz knapp, so dass die dünnen rötlichen Kindshaare seine Nüstern kitzelten, schnoberte er über den Kopf des Säuglings, in der Erwartung, einen Geruch aufzusaugen. Er wusste nicht so recht, wie Säuglinge am Kopf zu riechen hatten. Natürlich nicht nach Karamel, so viel stand fest, denn Karamel war ja geschmolzener Zucker, und wie sollte ein Säugling, der bisher nur Milch getrunken hatte, nach geschmolzenem Zucker riechen. Nach Milch könnte er riechen, nach Ammenmilch. Aber er roch nicht nach Milch. Nach Haaren konnte er riechen, nach Haut und Haaren und vielleicht nach ein bisschen Kinderschweiß. Und Terrier schnupperte und stellte sich darauf ein, Haut, Haare und ein bisschen Kinderschweiß zu riechen. Aber er roch nichts. Beim besten Willen nichts. Wahrscheinlich riecht ein Säugling nicht, dachte er, so wird das sein. Ein Säugling, sofern reinlich gehalten, riecht eben nicht, genausowenig wie er spricht, läuft oder schreibt. Diese Dinge kommen erst mit dem Alter. Strenggenommen strömt der Mensch sogar erst Duft aus, wenn er pubertiert. So ist das und nicht anders. Schreibt nicht schon Horaz »Es böckelt der Jüngling, es duftet erblühend die Jungfrau wie eine weiße Narzisse…«?- und die Römer verstanden etwas davon! Der Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft – also ein sündiger Duft. Wie sollte also ein Säugling, der doch noch nicht einmal im Traume die fleischliche Sünde kennt, riechen? Wie sollte er riechen? Duziduzi? Gar nicht!

3
{"b":"100699","o":1}