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Die Hand gab er ihm nicht, so weit war es mit der Sympathie auch wieder nicht her. Er hatte ihm noch nie die Hand gegeben. Er hatte überhaupt immer vermieden, ihn zu berühren, aus einer Art frommem Ekel, so, als bestünde die Gefahr, dass er sich anstecke an ihm, sich besudele. Er sagte nur kurz adieu. Und Grenouille nickte und duckte sich weg und ging davon. Die Straße war menschenleer.

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Baldini schaute ihm nach, wie er die Brücke hinunterhatschte, zur Insel hinüber, klein, gebückt, den Rucksack wie einen Buckel tragend, von hinten aussehend wie ein alter Mann. Drüben am Parlamentspalast, wo die Gasse eine Biegung machte, verlor er ihn aus den Augen und war außerordentlich erleichtert.

Er hatte den Kerl nie gemocht, nie, jetzt konnte er es sich endlich eingestehen. Die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und ausgeplündert hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie einem unbescholtenen Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut, ein Spiel mit unerlaubten Mitteln spielt. Gewiss, das Risiko, dass man ihm auf die Schliche kam, war klein und die Aussicht auf den Erfolg war riesengroß gewesen; aber ebenso groß waren auch Nervosität und schlechtes Gewissen. Tatsächlich war in all den Jahren kein Tag vergangen, an dem er nicht von der unangenehmen Vorstellung verfolgt gewesen wäre, er müsse auf irgendeine Weise dafür bezahlen, dass er sich mit diesem Menschen eingelassen hatte. Wenn's nur gutgeht! so hatte er sich immer wieder ängstlich vorgebetet, wenn's mir nur gelingt, dass ich den Erfolg dieses gewagten Abenteuers einheimse, ohne die Zeche dafür zu bezahlen! Wenn's mir nur gelingt! Es ist zwar nicht recht, was ich tue, aber Gott wird ein Auge zudrücken, bestimmt wird Er es tun! Er hat mich im Verlaufe meines Lebens oftmals hart genug gestraft, ohne jeden Anlass, also wäre es nur gerecht, wenn Er sich dies mal konziliant verhielte. Worin besteht denn mein Vergehen schon, wenn es überhaupt eines ist? Höchstens darin, dass ich mich ein wenig außerhalb der Zunftordnung bewege, indem ich die wunderbare Begabung eines Ungelernten exploitiere und seine Fähigkeit als meine eigne ausgebe. Höchstens darin, dass ich um ein Kleines vom traditionellen Pfad der handwerklichen Tugend abgewichen bin. Höchstens darin, dass ich heute tue, was ich gestern noch verdammt habe. Ist das ein Verbrechen? Andere betrügen ihr Leben lang. Ich habe nur ein paar Jahre ein bisschen geschummelt. Und auch nur, weil mir der Zufall die einmalige Gelegenheit dazu gegeben hat. Vielleicht war es nicht einmal der Zufall, vielleicht war es Gott selbst, der mir den Zauberer ins Haus geschickt hat, zur Wiedergutmachung für die Zeit der Erniedrigung durch Pelissier und seine Spießgesellen. Vielleicht richtet sich die göttliche Fügung überhaupt nicht auf mich, sondern gegen Pelissier! Das könnte sehr wohl möglich sein! Wie anders nämlich wäre Gott imstande, Pelissier zu strafen, als dadurch, dass er mich erhöhte? Mein Glück wäre infolgedessen das Mittel göttlicher Gerechtigkeit, und als solches dürfte ich nicht nur, ich müsste es akzeptieren, ohne Scham und ohne die geringste Reue…

So hatte Baldini in den vergangenen Jahren oft gedacht, morgens, wenn er die schmale Treppe in den Laden hinunterstieg, abends, wenn er mit dem Inhalt der Kasse heraufkam und die schweren Gold- und Silbermünzen in seinen Geldschrank zählte, und nachts, wenn er neben dem schnarchenden Gerippe seiner Frau lag und aus lauter Angst vor seinem Glück nicht schlafen konnte.

Aber jetzt, endlich, war es vorbei mit den sinistren Gedanken. Der unheimliche Gast war fort und würde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber blieb und war für alle Zukunft sicher. Baldini legte die Hand auf seine Brust und spürte durch den Stoff des Rocks das Büchlein über seinem Herzen. Sechshundert Formeln waren darin aufgezeichnet, mehr als ganze Generationen von Parfumeuren jemals würden realisieren können. Wenn er heute alles verlöre, so könnte er allein mit diesem wunderbaren Büchlein binnen Jahresfrist abermals ein reicher Mann sein. Wahrlich, was konnte er mehr verlangen!

Die Morgensonne fiel über die Giebel der gegenüberliegenden Häuser gelb und warm auf sein Gesicht. Immer noch schaute Baldini nach Süden die Straße hinunter in Richtung Parlamentspalastes war einfach zu angenehm, dass von Grenouille nichts mehr zu sehen war! – und beschloss, aus einem überbordenden Gefühl von Dankbarkeit noch heute nach Notre-Dame hinüberzupilgern, ein Goldstück in den Opferstock zu werfen, drei Kerzen anzuzünden und seinem Herrn auf den Knien zu danken, dass Er ihn mit so viel Glück überhäuft und vor Rache verschont hatte.

Aber dummerweise kam ihm dann wieder etwas dazwischen, denn am Nachmittag, als er sich gerade auf den Weg in die Kirche machen wollte, wurde das Gerücht laut, die Engländer hätten Frankreich den Krieg erklärt. Das war zwar an und für sich nichts Beunruhigendes. Da Baldini aber just dieser Tage eine Sendung mit Parfums nach London expedieren wollte, verschob er den Besuch in Notre-Dame und ging stattdessen in die Stadt, um Erkundigungen einzuholen, und anschließend in seine Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, um die Sendung nach London fürs erste zu stornieren. Nachts im Bett, kurz vor dem Einschlafen, hatte er dann eine geniale Idee: Er wollte in Anbetracht der bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzungen um die Kolonien in der Neuen Welt ein Parfum lancieren unter dem Namen >Prestige du Quebecs einen harzigheroischen Duft, dessen Erfolg – das stand fest – ihn für den Wegfall des Englandgeschäfts mehr als entschädigen würde. Mit diesem süßen Gedanken in seinem dummen alten Kopf, den er erleichtert auf das Kissen bettete, unter welchem sich der Druck des Formelbüchleins angenehm spürbar machte, entschlief Maitre Baldini und wachte in seinem Leben nicht mehr auf.

In der Nacht nämlich geschah eine kleine Katastrophe, welche, mit gebührender Verzögerung, den Anlass dazu gab, dass nach und nach sämtliche Häuser auf sämtlichen Brücken der Stadt Paris auf königlichen Befehl hin abgerissen werden mussten: Ohne erkennbare Ursache brach der Pont au Change auf seiner westlichen Seite zwischen dem dritten und vierten Pfeiler in sich zusammen. Zwei Häuser stürzten in den Fluss, so vollständig und so plötzlich, dass keiner der Insassen gerettet werden konnte. Glücklicherweise handelte es sich nur um zwei Personen, nämlich um Giuseppe Baldini und seine Frau Teresa. Die Bediensteten hatten sich, erlaubt oder unerlaubt, Ausgang genommen. Chenier, der erst in den frühen Morgenstunden leicht angetrunken nach Hause kam – vielmehr nach Hause kommen wollte, denn das Haus war ja nicht mehr da – , erlitt einen nervösen Zusammenbruch. Er hatte sich dreißig Jahre lang der Hoffnung hingegeben, von Baldini, der keine Kinder und Verwandte hatte, im Testament als Erbe eingesetzt zu sein. Und nun, mit einem Schlag, war das gesamte Erbe weg, alles, Haus, Geschäft, Rohstoffe, Werkstatt, Baldini selbst – ja sogar das Testament, das vielleicht noch Aussicht auf das Eigentum an der Manufaktur gegeben hätte!

Nichts wurde gefunden, die Leichen nicht, der Geldschrank nicht, die Büchlein mit den sechshundert Formeln nicht. Das einzige, was von Giuseppe Baldini, Europas größtem Parfumeur, zurückblieb, war ein sehr gemischter Duft von Moschus, Zimt, Essig, Lavendel und tausend anderen Stoffen, der noch mehrere Wochen lang den Lauf der Seine von Paris bis nach Le Havre überschwebte.

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