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Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet, stürzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay über die Zusammenhänge zwischen Erdnähe und Vitalkraft. Seine These war, dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln könne, da die Erde selbst ständig ein Verwesungsgas verströme, ein sogenanntes »fluidum letale«, welches die Vitalkräfte lahme und über kurz oder lang vollständig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wüchsen also von ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trügen sie ihre wertvollsten Teile himmelwärts: das Korn die Ähre, die Blume ihre Blüte, der Mensch den Kopf; und deshalb müssten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur Erde hinkrümme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten.

Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer Höhle – also völlig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er außer sich vor Entzücken und ließ Grenouille sofort zu sich in sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer gründlichen Untersuchung unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie bestätigt: Das fluidum letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein fünfundzwanzigjähriger Körper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen aufwies. Einzig die Tatsache – so erklärte Taillade-Espinasse – , dass Grenouille während seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen, vermutlich Brot und Früchte, zugeführt worden seien, habe seinen Tod verhindert. Nun könne der frühere Gesundheitszustand nur wiederhergestellt werden durch die gründliche Austreibung des Fluidums vermittels eines von ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations- Apparates. Einen solchen habe er im Speicher seines Stadtpalais in Montpellier stehen, und wenn Grenouille bereit wäre, sich als wissenschaftliches Demonstrationsobjekt zur Verfügung zu stellen, wolle er ihn nicht nur von seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch ein gutes Stück Geld zukommen lassen…

Zwei Stunden später saßen sie im Wagen. Obwohl sich die Straßen in einem miserablen Zustand befanden, schafften sie die vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis ließ es sich trotz seines vorgeschrittenen Alters nicht nehmen, persönlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel- und Federbrüchen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von seiner Trouvaille, so begierig, sie raschestens einer gebildeten Öffentlichkeit zu präsentieren. Grenouille hingegen durfte die Kutsche kein einziges Mal verlassen. Er hatte in seinen Lumpen, von einer mit feuchter Erde und Lehm getränkten Decke vollständig umhüllt, dazusitzen. Zu essen bekam er während der Reise rohes Wurzelgemüse. Auf diese Weise hoffte der Marquis, die Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren.

In Montpellier angekommen, ließ er Grenouille sofort in den Keller seines Palais verbringen, verschickte Einladungen an sämtliche Mitglieder der medizinischen Fakultät, des Botanikervereins, der Landwirtschaftsschule, der chemo-physikalischen Vereinigung, der Freimaurerloge und der übrigen Gelehrtengesellschaften, deren die Stadt nicht weniger als ein Dutzend besaß. Und einige Tage später – genau eine Woche nachdem er die Bergeinsamkeit verlassen hatte – fand sich Grenouille auf einem Podest in der großen Aula der Universität von Montpellier einer vielhundertköpfigen Menge als die wissenschaftliche Sensation des Jahres präsentiert.

In seinem Vortrag bezeichnete ihn Taillade-Espinasse als den lebenden Beweis für die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie. Während er ihm nach und nach die Lumpen vom Leibe riss, erklärte er den verheerenden Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles Körper ausgeübt habe: Da sehe man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasverätzung; dort auf der Brust ein riesiges glänzendrotes Gaskarzinom; allenthalben eine Zersetzung der Haut; und sogar eine deutliche fluidale Verkrüppelung des Skeletts, die als Klumpfuß und Buckel sichtbar hervortrete. Auch seien die inneren Organe Milz, Leber, Lunge, Galle und Verdauungstrakt schwer gasgeschädigt, wie die Analyse einer Stuhlprobe, die sich in einer Schüssel zu Füßen des Demonstranten für jedermann zugänglich befinde, zweifelsfrei erwiesen habe. Zusammenfassend könne daher gesagt werden, dass die Lähmung der Vitalkräfte aufgrund siebenjähriger Verseuchung durch >fluidum letale Taillade< schon so weit fortgeschritten sei, dass Demonstrant – dessen äußere Erscheinung im übrigen bereits signifikant maulwurfhafte Züge aufweise – mehr als ein dem Tode denn als ein dem Leben zugewandtes Wesen bezeichnet werden müsse. Dennoch mache Referent sich anheischig, den an und für sich Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit Vitaldiät innerhalb von acht Tagen wieder soweit herzustellen, dass die Anzeichen für eine vollständige Heilung jedermann in die Augen springen werde, und fordere die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der dann freilich als gültiger Beweis für die Richtigkeit der letalen Erdfluidumstheorie angesehen werden müsse, binnen Wochenfrist zu überzeugen.

Der Vortrag war ein Riesenerfolg. Heftig applaudierte das gelehrte Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten Narben und Verkrüppelungen sah er tatsächlich so beeindruckend fürchterlich aus, dass ihn jedermann für halb verwest und unrettbar verloren hielt, obwohl er selbst sich durchaus gesund und kräftig fühlte. Manche der Herren beklopften ihn fachmännisch, vermaßen ihn, schauten ihm in Mund und Auge. Einige richteten das Wort an ihn und erkundigten sich nach seinem Höhlenleben und nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich jedoch streng an eine im voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete auf solche Fragen nur mit einem gepressten Röcheln, wobei er mit beiden Händen hilflose Gesten gegen seinen Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch dieser bereits vom >fluidum letale Taillade< zerfressen sei.

Am Ende der Veranstaltung packte ihn Taillade-Espinasse wieder ein und verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines Palais. Dort schloss er ihn im Beisein einiger ausgewählter Doktoren der medizinischen Fakultät in den Vitalluftventilationsapparat, einen aus dichtverfugten Fichtenbrettern gefertigten Verschlag, der mittels eines weit über das Dach hinausreichenden Ansaugekamins mit letalgasfreier Höhenluft durchflutet wurde, welche durch eine am Boden angebrachte Lederventilklappe wieder entweichen konnte. In Betrieb gehalten wurde die Anlage von einer Staffel von Bediensteten, die Tag und Nacht dafür sorgten, dass die im Kamin eingebauten Ventilatoren nicht zur Ruhe kamen. Und während Grenouille auf diese Weise von einem ständigen reinigenden Luftstrom umgeben war, wurden ihm in stündlichem Abstand durch ein seitlich eingearbeitetes doppelwandiges Luftschleusentürchen diätetische Speisen erdferner Provenienz dargeboten: Taubenbrühe, Lerchenpastete, Ragout von Flugenten, eingemachtes Baumobst, Brot von extra hochwachsenden Weizensorten, Pyrenäenwein, Gemsenmilch und Eischaumcreme von Hühnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden.

Fünf Tage lang dauerte diese kombinierte Entseuchungs- und Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis die Ventilatoren anhalten und verbrachte Grenouille in einen Waschraum, wo er in Bädern von lauwarmem Regenwasser mehrere Stunden eingeweicht und schließlich mit Nussölseife aus der Andenstadt Potosi von Kopf bis Fuß gewaschen wurde. Man schnitt ihm die Finger- und Zehennägel, reinigte seine Zähne mit feingeschlämmtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, kürzte und kämmte seine Haare, coiffierte und puderte sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und Grenouille bekam ein seidenes Hemd verpasst, mit weißem Jabot und weißen Rüschen an den Manschetten, seidene Strümpfe, Rock, Hose und Weste aus blauem Samt und schöne Schnallenschuhe von schwarzem Leder, deren rechter geschickt den verkrüppelten Fuß kaschierte. Höchsteigenhändig legte der Marquis weiße Talkumschminke auf Grenouilles narbiges Gesicht, tupfte ihm Karmesin auf Lippen und Wangen und verlieh den Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich edle Wölbung. Dann stäubte er ihn mit seinem persönlichen Parfum ein, einer ziemlich simplen Veilchennote, trat einige Schritte zurück und brauchte lange Zeit, sein Entzücken in Worte zu fassen.

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