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Es ist still, die Front ist ruhig bis auf das Gewehrgeknatter. Die Kugeln liegen dicht, es wird nicht planlos geschossen, sondern auf allen Seiten scharf gezielt. Ich kann nicht hinaus.

»Ich will deiner Frau schreiben«, sage ich hastig zu dem Toten,»ich will ihr schreiben, sie soll es durch mich erfahren, ich will ihr alles sagen, was ich dir sage, sie soll nicht leiden, ich will ihr helfen und deinen Eltern auch und deinem Kinde -«

Seine Uniform steht noch halb offen. Die Brieftasche ist leicht zu finden. Aber ich zögere, sie zu öffnen. In ihr ist das Buch mit seinem Namen. Solange ich seinen Namen nicht weiß, kann ich ihn vielleicht noch vergessen, die Zeit wird es tilgen, dieses Bild. Sein Name aber ist ein Nagel, der in mir eingeschlagen wird und nie mehr herauszubringen ist. Er hat die Kraft, alles immer wieder zurückzurufen, er wird stets wiederkommen und vor mich hintreten können.

Ohne Entschluß halte ich die Brieftasche in der Hand. Sie entfällt mir und öffnet sich. Einige Bilder und Briefe fallen heraus. Ich sammle sie auf und will sie wieder hineinpacken, aber der Druck, unter dem ich stehe, die ganze ungewisse Lage, der Hunger, die Gefahr, diese Stunden mit dem Toten haben mich verzweifelt gemacht, ich will die Auflösung beschleunigen und die Quälerei verstärken und enden, wie man eine unerträglich schmerzende Hand gegen einen Baum schmettert, ganz gleich, was wird.

Es sind Bilder einer Frau- und eines kleinen Mädchens, schmale Amateurfotografien vor einer Efeuwand. Neben ihnen stecken Briefe. Ich nehme sie heraus und versuche sie zu lesen. Das meiste verstehe ich nicht, es ist schlecht zu entziffern, und ich kann nur wenig Französisch. Aber jedes Wort, das ich übersetze, dringt mir wie ein Schuß in die Brust – wie ein Stich in die Brust – Mein Kopf ist völlig überreizt. Aber so viel begreife ich noch, daß ich diesen Leuten nie schreiben darf, wie ich es dachte vorhin. Unmöglich. Ich sehe die Bilder noch einmal an; es sind keine reichen Leute. Ich könnte ihnen ohne Namen Geld schicken, wenn ich später etwas verdiene. Daran klammere ich mich, das ist ein kleiner Halt wenigstens. Dieser Tote ist mit meinem Leben verbunden, deshalb muß ich alles tun und versprechen, um mich zu retten; ich gelobe blindlings, daß ich nur für ihn dasein will und seine Familie, – mit nassen Lippen rede ich auf ihn ein, und ganz tief in mir sitzt dabei die Hoffnung, daß ich mich dadurch freikaufe und vielleicht hier doch noch herauskomme, eine kleine Hinterlist, daß man nachher immer noch erst einmal sehen könne. Und deshalb schlage ich das Buch auf und lese langsam: Gérard Duval, Typograph.

Ich schreibe die Adresse mit dem Bleistift des Toten auf einen Briefumschlag und schiebe dann plötzlich rasch alles in seinen Rock zurück.

Ich habe den Buchdrucker Gérard Duval getötet. Ich muß Buchdrucker werden, denke ich ganz verwirrt, Buchdrucker werden, Buchdrucker -

* * *

Nachmittags bin ich ruhiger. Meine Furcht war unbegründet. Der Name verwirrt mich nicht mehr. Der Anfall vergeht.»Kamerad«, sage ich zu dem Toten hinüber, aber ich sage es gefaßt.»Heute du, morgen ich. Aber wenn ich davonkomme, Kamerad, will ich kämpfen gegen dieses, das uns beide zerschlug: dir das Leben – und mir -? Auch das Leben. Ich verspreche es dir, Kamerad. Es darf nie wieder geschehen.«

Die Sonne steht schräg. Ich bin dumpf vor Erschöpfung und Hunger. Das Gestern ist mir wie ein Nebel, ich hoffe nicht, hier noch hinauszugelangen. So döse ich dahin und begreife nicht einmal, daß es Abend wird. Die Dämmerung kommt. Es scheint mir rasch jetzt. Noch eine Stunde. Wäre es Sommer, noch drei Stunden. Noch eine Stunde.

Nun beginne ich plötzlich zu zittern, daß etwas dazwischenkäme. Ich denke nicht mehr an den Toten, er ist mir jetzt völlig gleichgültig. Mit einem Schlage springt die Lebensgier auf, und alles, was ich mir vorgenommen habe, versinkt davor. Nur um jetzt nicht noch Unglück zu haben, plappere ich mechanisch:»Ich werde alles halten, was ich dir versprochen habe -«, aber ich weiß schon jetzt, daß ich es nicht tun werde.

Plötzlich fällt mir ein, daß meine eigenen Kameraden auf mich schießen können, wenn ich ankrieche; sie wissen es ja nicht. Ich werde rufen, so früh es geht, damit sie mich verstehen. So lange will ich vor dem Graben liegenbleiben, bis sie mir antworten.

Der erste Stern. Die Front bleibt ruhig. Ich atme auf und spreche vor Aufregung mit mir selbst:»Jetzt keine Dummheit, Paul – Ruhe, Ruhe, Paul -, dann bist du gerettet, Paul.«Es wirkt, wenn ich meinen Vornamen sage, das ist, als täte es ein anderer, und hat so mehr Gewalt.

Die Dunkelheit wächst. Meine Aufregung legt sich, ich warte aus Vorsicht, bis die ersten Raketen steigen. Dann krieche ich aus dem Trichter. Den Toten habe ich vergessen. Vor mir liegt die beginnende Nacht und das bleich beleuchtete Feld. Ich fasse ein Loch ins Auge; im Moment, wo das Licht erlischt, schnelle ich hinüber, taste weiter, erwische das nächste, ducke mich, husche weiter.

Ich komme näher. Da sehe ich bei einer Rakete, wie im Draht sich etwas eben noch bewegt, ehe es erstarrt, und liege still. Beim nächstenmal sehe ich es wieder, es sind bestimmt Kameraden aus unserm Graben. Aber ich bin vorsichtig, bis ich unsere Helme erkenne. Dann rufe ich.

Gleich darauf erschallt als Antwort mein Name:»Paul – Paul -«

Ich rufe wieder. Es sind Kat und Albert, die mit einer Zeltbahn losgegangen sind, um mich zu suchen.

»Bist du verwundet?«

»Nein, nein -«

Wir rutschen in den Graben. Ich verlange Essen und schlinge es hinunter. Müller gibt mir eine Zigarette. Ich sage mit wenigen Worten, was geschehen ist. Es ist ja nichts Neues; so was ist schon oft passiert. Nur der Nachtangriff ist das Besondere bei der Sache. Aber Kat hat in Rußland schon einmal zwei Tage hinter der russischen Front gelegen, ehe er sich durchschlagen konnte.

Von dem toten Buchdrucker sage ich nichts.

Erst am nächsten Morgen halte ich es nicht mehr aus. Ich muß es Kat und Albert erzählen. Sie beruhigen mich beide.»Du kannst gar nichts daran machen. Was wolltest du anders tun. Dazu bist du doch hier!«

Ich höre ihnen geborgen zu, getröstet durch ihre Nähe. Was habe ich nur für einen Unsinn zusammengefaselt da in dem Trichter.

»Sieh mal dahin«, zeigt Kat.

An den Brustwehren stehen einige Scharfschützen. Sie haben Gewehre mit Zielfernrohren aufliegen und lauern den Abschnitt drüben ab. Hin und wieder knallt ein Schuß. Jetzt hören wir Ausrufe.»Das hat gesessen?«-»Hast du gesehen, wie er hochsprang?«Sergeant Oellrich wendet sich stolz um und notiert seinen Punkt. Er führt in der Schußliste von heute mit drei einwandfrei festgestellten Treffern.

»Was sagst du dazu?«fragt Kat.

Ich nicke.

»Wenn er so weitermacht, hat er heute abend ein buntes Vögelchen mehr im Knopfloch«, meint Kropp.

»Oder er wird bald Vizefeldwebel«, ergänzt Kat.

Wir sehen uns an.»Ich würde es nicht machen«, sage ich.»Immerhin«, sagt Kat,»es ist ganz gut, daß du es jetzt gerade siehst.«

Sergeant Oellrich tritt wieder an die Brustwehr. Die Mündung seines Gewehrs geht hin und her.

»Da brauchst du über deine Sache kein Wort mehr zu verlieren«, nickt Albert.

Ich begreife mich jetzt auch selbst nicht mehr.»Es war nur, weil ich so lange mit ihm zusammen liegen mußte«, sage ich. Krieg ist Krieg schließlich. Oellrichs Gewehr knallt kurz und trocken.

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