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So wird es auch sein, wenn ich Glück habe, wenn der Krieg aus ist und ich wiederkomme für immer. Ich werde ebenso hier sitzen und mein Zimmer ansehen und warten. Ich bin aufgeregt; aber ich möchte es nicht sein, denn das ist nicht richtig. Ich will wieder diese stille Hingerissenheit, das Gefühl dieses heftigen, unbenennbaren Dranges verspüren, wie früher, wenn ich vor meine Bücher trat. Der Wind der Wünsche, der aus den bunten Bücherrücken aufstieg, soll mich wieder erfassen, er soll den schweren, toten Bleiblock, der irgendwo in mir liegt, schmelzen und mir wieder die Ungeduld der Zukunft, die beschwingte Freude an der Welt der Gedanken wecken; – er soll mir das verlorene Bereitsein meiner Jugend zurückbringen.

Ich sitze und warte.

Mir fällt ein, daß ich zu Kemmerichs Mutter gehen muß; – Mittelstaedt könnte ich auch besuchen, er muß in der Kaserne sein. Ich sehe aus dem Fenster: – hinter dem besonnten Straßenbild taucht verwaschen und leicht ein Hügelzug auf, verwandelt sich zu einem hellen Tag im Herbst, wo ich am Feuer sitze und mit Kat und Albert gebratene Kartoffeln aus der Schale esse.

Doch daran will ich nicht denken, ich wische es fort. Das Zimmer soll sprechen, es soll mich einfangen und tragen, ich will fühlen, daß ich hierhergehöre, und horchen, damit ich weiß, wenn ich wieder an die Front gehe: Der Krieg versinkt und ertrinkt, wenn die Welle der Heimkehr kommt, er ist vorüber, er zerfrißt uns nicht, er hat keine andere Macht über uns als nur die äußere!

Die Bücherrücken stehen, nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie mit meinen Augen: Sprecht zu mir, – nehmt mich auf – nimm mich auf, du Leben von früher, – du sorgloses, schönes – nimm mich wieder auf – Ich warte, ich warte.

Bilder ziehen vorüber, sie haken nicht fest, es sind nur Schatten und Erinnerungen.

Nichts – nichts.

Meine Unruhe wächst.

Ein fürchterliches Gefühl der Fremde steigt plötzlich in mir hoch. Ich kann nicht zurückfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie ein Verurteilter da, und die Vergangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig spüre ich Furcht, sie zu sehr zu beschwören, weil ich nicht weiß, was dann alles geschehen könnte. Ich bin ein Soldat, daran muß ich mich halten.

Müde stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der Bücher und blättere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein anderes. Es sind Stellen darin, die angestrichen sind. Ich suche, blättere, nehme neue Bücher. Schon liegt ein Pack neben mir. Andere kommen dazu, hastiger

– Blätter, Hefte, Briefe. Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht. Mutlos. Worte, Worte, Worte – sie erreichen mich nicht. Langsam stelle ich die Bücher wieder in die Lücken. Vorbei. Still gehe ich aus dem Zimmer.

* * *

Noch gebe ich es nicht auf. Mein Zimmer betrete ich zwar nicht mehr, aber ich tröste mich damit, daß einige Tage noch nicht ein Ende zu sein brauchen. Ich habe nachher -später – Jahre dafür Zeit. Vorläufig gehe ich zu Mittelstaedt in die Kaserne, und wir sitzen in seiner Stube, da ist eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewöhnt bin. Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er erzählt mir, daß Kantorek eingezogen worden sei als Landsturmmann.»Stell dir vor«, sagt er und holt ein paar gute Zigarren heraus,»ich komme aus dem Lazarett hierher und falle gleich über ihn. Er streckt mir seine Pfote entgegen und quakt: ›Sieh da, Mittelstaedt, wie geht es denn?‹ – Ich sehe ihn groß an und antworte: ›Landsturmmann Kantorek, Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, das sollten Sie selbst am besten wissen. Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.‹ – Du hättest sein Gesicht sehen müssen! Eine Kreuzung aus Essiggurke und Blindgänger. Zögernd versuchte er noch einmal, sich anzubiedern. Da schnauzte ich etwas schärfer. Nun führte er seine stärkste Batterie ins Gefecht und fragte vertraulich › ›Soll ich Ihnen vermitteln, daß Sie Notexamen machen?‹ Er wollte mich erinnern, verstehst du. Da packte mich die Wut, und ich erinnerte ihn auch. ›Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren haben Sie uns zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich nicht wollte. Er fiel drei Monate bevor er eingezogen worden wäre. Ohne Sie hätte er solange gewartet. Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.‹ – Es war mir leicht, seiner Kompanie zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich ihn zur Kammer und sorgte für eine hübsche Ausrüstung. Du wirst ihn gleich sehen.«

Wir gehen auf den Hof. Die Kompanie ist angetreten. Mittelstaedt läßt rühren und besichtigt.

Da erblicke ich Kantorek und muß das Lachen verbeißen. Er trägt eine Art Schoßrock aus verblichenem Blau. Auf dem Rücken und an den Ärmeln sind große dunkle Flicken eingesetzt. Der Rock muß einem Riesen gehört haben. Um so kürzer ist die abgewetzte schwarze Hose; sie reicht bis zur halben Wade. Dafür sind aber die Schuhe sehr geräumig, eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten zu schnüren. Als Ausgleich ist die Mütze wieder zu klein, ein furchtbar dreckiges, elendes Krätzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswürdig. Mittelstaedt bleibt stehen vor ihm:»Landsturmmann Kantorek, ist das Knopfputz? Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenügend, Kantorek, ungenügend -«

Ich brülle innerlich vor Vergnügen. Genauso hat Kantorek in der Schule Mittelstaedt getadelt, mit demselben Tonfall:»Ungenügend, Mittelstaedt, ungenügend.«

Mittelstaedt mißbilligt weiter:»Sehen Sie sich mal Boettcher an, der ist vorbildlich, von dem können Sie lernen.«

Ich traue meinen Augen kaum. Boettcher ist ja auch da, unser Schulportier. Und der ist vorbildlich! Kantorek schießt mir einen Blick zu, als ob er mich fressen möchte. Ich aber grinse ihm nur harmlos in die Visage, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne.

Wie blödsinnig er aussieht mit seinem Krätzchen und seiner Uniform! Und vor so was hat man früher eine Heidenangst gehabt, wenn es auf dem Katheder thronte und einen mit dem Bleistift aufspießte bei den unregelmäßigen französischen Verben, mit denen man nachher in Frankreich doch nichts anfangen konnte. Es ist noch kaum zwei Jahre her; – und jetzt steht hier der Landsturmmann Kamorek, jäh entzaubert, mit krummen Knien und Armen wie Topfhenkel, mit schlechtem Knopfputz und lächerlicher Haltung, ein unmöglicher Soldat. Ich kann ihn mir nicht mehr zusammenreimen mit dem drohenden Bilde auf dem Katheder, und ich möchte wirklich gern mal wissen, was ich machen werde, wenn dieser Jammerpelz mich alten Soldaten jemals wieder fragen darf:»Bäumer, nennen Sie das Imparfait von aller -«

Vorläufig läßt Mittelstaedt etwas Schwärmen üben. Kantorek wird dabei wohlwollend von ihm zum Gruppenführer bestimmt.

Damit hat es seine besondere Bewandtnis. Der Gruppenführer muß beim Schwärmen nämlich stets zwanzig Schritt vor seiner Gruppe sein; – kommandiert man nun: Kehrt – marsch!, so macht die Schwarmlinie nur die Wendung, der Gruppenführer jedoch, der dadurch plötzlich zwanzig Schritt hinter der Linie ist, muß im Galopp vorstürzen, um wieder seine zwanzig Schritt vor die Gruppe zu kommen. Das sind zusammen vierzig Schritt: Marsch, marsch. Kaum ist er aber angelangt, so wird einfach wieder Kehrt -marsch! befohlen, und er muß eiligst wieder vierzig Schritt nach der anderen Seite rasen. Auf diese Weise macht die Gruppe nur gemütlich immer eine Wendung und ein paar Schritte, während der Gruppenführer hin und her saust wie ein Furz auf der Gardinenstange. Das Ganze ist eines der vielen probaten Rezepte von Himmelstoß.

Kantorek kann von Mittelstaedt nichts anderes verlangen, denn er hat ihm einmal eine Versetzung vermurkst, und Mittelstaedt wäre schön dumm, diese gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er wieder ins Feld kommt. Man stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiß einem auch einmal solch eine Chance geboten hat. Einstweilen spritzt Kantorek hin und her wie ein aufgescheuchtes Wildschwein. Nach einiger Zeit läßt Mittelstaedt aufhören, und nun beginnt die so wichtige Übung des Kriechens. Auf Knien und Ellenbogen, die Knarre vorschriftsmäßig gefaßt, schiebt Kantorek seine Prachtfigur durch den Sand, dicht an uns vorbei. Er schnauft kräftig, und sein Schnaufen ist Musik.

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