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Die Wagen rückten langsam vor. Der Schauspieler, der Tommy genannt wurde, bekam eine glänzende Fuhre zum Bahnhof. Gustav eine zum nächsten Restaurant für dreißig Pfennig. Er platzte fast vor Wut darüber, denn er mußte sich für zehn Pfennig Verdienst nun wieder hinten anstellen. Ich erwischte etwas ganz Seltenes – eine alte Engländerin, die sich die Stadt ansehen wollte. Ich war fast eine Stunde mit ihr unterwegs. Auf der Rückkehr schnappte ich noch ein paar kleinere Sachen. Mittags, als wir alle wieder in der Kneipe saßen und unsere Butterbrote aßen, kam ich mir schon vor wie ein gedienter Chauffeur. Die Sache hatte etwas von der Brüderschaft alter Soldaten an sich. Leute aus allen möglichen Berufen kamen da zusammen. Höchstens die Hälfte war immer dabeigewesen, die andern waren auf irgendeine Weise hineingerutscht.

Ziemlich aufgekratzt fuhr ich nachmittags in den Hof unserer Werkstatt ein. Lenz und Köster erwarteten mich schon.

»Brüder, was habt ihr verdient?«fragte ich.

»Siebzig Liter Benzin«, meldete Jupp.

»Sonst nichts?«

Lenz schaute mit wildem Gesicht zum Himmel auf.»Regnen müßte es! Und dann ein kleiner Zusammenstoß auf dem Rutschasphalt direkt vor der Tür! Keine Verletzten! Nur eine nette, runde Reparatur.«

»Schaut her!«Ich zeigte fünfunddreißig Mark auf der flachen Hand.

»Großartig«, sagte Köster.»Davon sind zwanzig Mark verdient. Die werden wir heute auf den Kopf hauen. Müssen die Jungfernfahrt doch feiern!«

»Wir wollen eine Waldmeisterbowle trinken«, erklärte Lenz.

»Bowle?«fragte ich.»Wozu denn Bowle?«

»Weil Pat mitkommt.«

»Pat?«

»Sperr den Schnabel nicht soweit auf«, sagte der letzte Romantiker,»wir haben alles längst abgemacht. Um sieben holen wir sie ab. Sie weiß Bescheid. Wenn du nicht daran denkst, müssen wir uns eben selbst helfen. Schließlich hast du sie doch durch uns kennengelernt.«

»Otto«, sagte ich,»hast du je etwas Unverfroreneres gesehen als diesen Rekruten?«

Köster lachte.»Was hast du denn an der Hand, Robby? Du hältst sie ja so schief.«

»Verstaucht, glaube ich.«Ich erzählte die Geschichte mit Gustav.

Lenz sah sie sich an.»Natürlich! Als Christ und Student der Medizin im Ruhestand werde ich sie dir massieren, trotz deiner Rüpeleien. Komm mit, du Meisterboxer.«

Wir gingen in die Werkstatt, und Gottfried machte sich mit etwas Öl über meine Hand her.»Hast du Pat gesagt, daß wir unser eintägiges Jubiläum als Taxichauffeure feiern?«fragte ich ihn.

Er pfiff durch die Zähne.»Genierst du dich deswegen, Bursche?«

»Halt den Schnabel!«erwiderte ich. Besonders weil er recht hatte.»Hast du es gesagt?«

»Die Liebe«, erklärte Gottfried ungerührt,»ist etwas Herrliches. Aber sie verdirbt den Charakter.«

»Dafür macht Alleinsein taktlos, du trüber Solist.«

»Takt ist eine stillschweigende Vereinbarung, über gemeinsame Fehler hinwegzusehen, anstatt sich zu läutern. Also eine elende Kompromißhandlung. Dazu gibt sich ein deutscher Veteran nicht her, Baby.«

»Was würdest du denn an meiner Stelle machen«, fragte ich,»wenn jemand dich zu einer Taxifahrt anriefe und du sähest dann, daß es Pat wäre?«

Er schmunzelte.»Ich würde auf keinen Fall Fahrgeld von ihr verlangen, mein Sohn.«

Ich gab ihm einen Stoß, daß er von seinem dreibeinigen Bock fiel.»Du Heuschrecke! Weißt du, was ich tun werde? Ich werde sie heute abend einfach mit dem Taxi abholen.«

»Recht so!«Gottfried hob segnend die Hand.»Nur die Freiheit nicht verlieren! Sie ist kostbarer als die Liebe. Das weiß man aber immer erst hinterher. Das Taxi kriegst du trotzdem nicht. Das brauchen wir für Ferdinand Grau und Valentin. Es wird ein seriöser, aber großer Abend.«

Wir saßen im Garten eines kleinen Wirtshauses vor der Stadt. Der feuchte Mond hing wie eine rote Fackel tief über den Wäldern. Die bleichen Blütenkandelaber der Kastanien schimmerten, der Flieder roch betäubend, und vor uns auf dem Tisch das große Glasgefäß mit dem nach Waldmeister duftenden Wein sah im Ungewissen Licht der frühen Nacht aus wie ein heller Opal, in dem sich bläulich und perlmuttern der letzte Schein des Abends sammelte. Wir hatten es schon zum viertenmal füllen lassen.

Ferdinand Grau führte den Vorsitz. Pat saß neben ihm. Sie trug eine blaßrosa Orchidee, die er ihr mitgebracht hatte.

Ferdinand fischte eine Mücke aus seinem Wein und streifte sie vorsichtig auf den Tisch.»Seht euch das an«, sagte er.»Diese Flügel! Dagegen ist jeder Brokat ein Scheuerlappen! Und so was lebt einen Tag, dann ist es vorbei.«Er schaute uns der Reihe nach an.»Wißt ihr, was das unheimlichste auf der Welt ist, Brüder?«

»Ein leeres Glas«, erwiderte Lenz.

Ferdinand wischte ihn mit einer Handbewegung weg.»Das entehrendste auf der Welt, Gottfried, ist für einen Mann, ein Witzbold zu sein.«Dann wandte er sich uns wieder zu.»Das unheimlichste, Brüder, ist die Zeit. Die Zeit. Der Augenblick, durch den wir leben und den wir doch nie besitzen.«

Er zog seine Uhr aus der Tasche und hielt sie Lenz vor die Augen.»Das hier, du Papierromantiker! Die Höllenmaschine, die tickt und tickt, dem Nichts unaufhaltsam entgegentickt! Du kannst eine Lawine aufhalten, einen Bergrutsch – aber das da nicht.«

»Will ich auch gar nicht«, erklärte Lenz.»Ich will friedlich altern. Und außerdem liebe ich die Abwechslung.«

»Der Mensch erträgt es nicht«, sagte Grau, ohne ihn zu beachten.»Der Mensch kann es auch nicht ertragen. Deshalb hat er sich einen Traum zurechtgemacht. Den alten, rührenden, hoffnungslosen Menschheitstraum Ewigkeit.«

Gottfried lachte.»Die schlimmste Krankheit der Welt, Ferdinand, ist Denken! Sie ist unheilbar.«

»Wenn es die einzige wäre, wärest du unsterblich«, erwiderte Grau.»Du Zusammenballung von Kohlehydraten, Kalk, Phosphor und ein bißchen Eisen, für eine flüchtige Zeit auf Erden Gottfried Lenz genannt.«

Gottfried schmunzelte wohlgefällig. Ferdinand schüttelte den Löwenschädel.»Brüder, das Leben ist eine Krankheit, und der Tod beginnt schon mit der Geburt. Jeder Atemzug und jeder Herzschlag ist schon ein bißchen Sterben – ein kleiner Ruck dem Ende zu.«

»Jeder Schluck auch«, erwiderte Lenz.»Prost, Ferdinand! Manchmal ist das Sterben verdammt leicht.«

Grau hob sein Glas. Über sein großes Gesicht zog ein Lächeln wie ein lautloses Gewitter.»Prost, Gottfried, du munterer Floh auf dem rieselnden Geröll der Zeit. Was mag sich die geisterhafte Kraft, die uns bewegt, gedacht haben, als sie dich schuf?«

»Das soll sie mit sich selbst abmachen. Im übrigen solltest gerade du nicht so abfällig über solche Dinge reden, Ferdinand. Wenn die Menschen ewig wären, würdest du arbeitslos, alter guter Parasit des Todes.«

Graus Schultern begannen zu beben. Er lachte. Dann wandte er sich an Pat.»Was sagen Sie zu uns Schwätzern, kleine Blüte auf den tanzenden Wassern?«

Später ging ich mit Pat allein durch den Garten. Der Mond war höher gestiegen, und die Wiesen schwammen in grauem Silber. Die Schatten der Bäume lagen lang und schwarz darüber wie dunkle Wegweiser ins Ungewisse. Wir gingen bis zum See hinunter und kehrten dann um. Unterwegs trafen wir Gottfried Lenz, der sich einen Gartenstuhl mitgenommen und ihn tief in ein Gebüsch von Fliedersträuchern geschoben hatte. Da saß er nun, und nur sein blonder Schöpf und seine Zigarette leuchteten heraus. Neben sich auf der Erde hatte er ein Glas und den Rest der Maibowle stehen.

»Das ist ein Platz!«sagte Pat.»Mitten im Flieder.«

»Es läßt sich aushalten.«Gottfried stand auf.»Versuchen Sie es mal.«Pat setzte sich auf den Stuhl. Ihr Gesicht schimmerte zwischen den Blüten.»Ich bin verrückt mit Flieder«, sagte der letzte Romantiker.»Heimweh bedeutet für mich Flieder. Im Frühjahr 1924 bin ich einmal Hals über Kopf aus Rio de Janeiro abgereist, nur weil mir einfiel, daß hier der Flieder blühen müsse. Als ich dann ankam, war es natürlich schon viel zu spät.«Er lachte.»So geht es immer.«

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