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»Das tun sie erst, wenn man sie anfährt.«Ich zog langsam die Bremse.»So, hier haben wir eine prachtvolle, leere Seitenstraße. Hier wollen wir nun mal richtig üben. Zunächst das Anfahren und das Halten.«

Patrice Hollmann würgte ein paarmal den Motor ab. Sie knöpfte ihre Pelzjacke auf.»Mir wird warm dabei! Aber ich muß es lernen!«

Sie saß eifrig und aufmerksam am Steuer und beobachtete, was ich ihr vormachte. Dann fuhr sie mit aufgeregten kleinen Ausrufen ihre ersten Kurven und hatte vor entgegenkommenden Scheinwerfern Angst wie vor dem Teufel, und ebensoviel Stolz, wenn sie glücklich passiert waren. Bald entstand in dem kleinen, vom Licht des Schaltbretts halb erhellten Raum ein Gefühl von Kameradschaft, wie es sich rasch bei technischen und sachlichen Dingen einstellt – und als wir nach einer halben Stunde die Plätze wechselten und ich zurückfuhr, waren wir vertrauter miteinander geworden, als wenn wir uns gegenseitig unsere ganze Lebensgeschichte erzählt hätten.

In der Nähe der Nikolaistraße hielt ich den Wagen wieder an. Wir standen gerade unter einer roten Kinoreklame. Der Asphalt schimmerte matt darunter wie verblichener Purpur. An der Bordschwelle glänzte ein großer schwarzer Ölfleck.

»So«, sagte ich,»jetzt haben wir uns redlich ein Glas zu trinken verdient. Wo wollen wir das tun?«Patrice Hollmann überlegte einen Augenblick.»Gehen wir doch wieder in die hübsche Bar mit Segelschiffen«, schlug sie dann vor.

Ich war im Augenblick in höchstem Alarm. In der Bar saß jetzt todsicher der letzte Romantiker. Ich sah schon sein Gesicht.»Ach«, sagte ich rasch,»das ist doch nichts Besonderes. Es gibt viel nettere Lokale…«

»Ich weiß nicht – ich fand es sehr hübsch neulich.«

»Tatsächlich?«fragte ich verblüfft.»Sie fanden es neulich hübsch?«

»Ja«, erwiderte sie lachend.»Sehr sogar…«

So was! dachte ich, und deshalb habe ich mir Vorwürfe gemacht!»Ich glaube aber, es ist um diese Zeit sehr voll da«, versuchte ich noch einmal.

»Wir können es uns ja mal ansehen.«

»Ja, das können wir.«Ich überlegte, was ich machen sollte.

Als wir ankamen, stieg ich rasch aus.»Ich schaue schnell mal nach. Bin gleich wieder da.«

Es war kein Bekannter da, außer Valentin.»Sag mal«, fragte ich,»war Gottfried schon hier?«

Valentin nickte.»Mit Otto. Sind vor 'ner halben Stunde weggegangen.«

»Schade«, sagte ich aufatmend.»Hätte sie gern getroffen.«Ich ging zum Wagen zurück.»Wir können es riskieren«, erklärte ich.»Zufällig ist es nicht so schlimm heute.«Zur Vorsicht jedoch parkte ich den Cadillac um die nächste Ecke im tiefsten Schatten.

Aber wir saßen noch keine zehn Minuten, als der strohblonde Kopf von Lenz an der Theke erschien. Verflucht, dachte ich, jetzt ist's passiert! Ein paar Wochen später war's mir lieber gewesen.

Gottfried schien nicht bleiben zu wollen. Schon glaubte ich gerettet zu sein, da sah ich, daß Valentin ihn auf mich aufmerksam machte. Das hatte ich für meine Lüge von vorhin. Gottfrieds Gesicht, als er uns erblickte, wäre eine hervorragende Studie für einen lernbegierigen Filmschauspieler gewesen. Die Augen traten ihm heraus wie Spiegeleier, und ich hatte Sorge, daß ihm der Unterkiefer wegfiel. Es war schade, daß kein Regisseur in diesem Augenblick in der Bar saß; ich wäre sicher gewesen, daß er Lenz vom Fleck weg engagiert hätte. Für Rollen zum Beispiel, wo vor einem schiffbrüchigen Matrosen plötzlich die Seeschlange mit Gebrüll auftaucht.

Gottfried hatte sich rasch wieder in der Gewalt. Ich warf ihm einen beschwörenden Blick zu, zu verschwinden. Er beantwortete ihn mit einem niederträchtigen Grinsen, zog sich den Rock glatt und kam heran.

Ich wußte, was mir bevorstand, und griff sofort an.»Hast du Fräulein Bomblatt schon nach Hause gebracht?«fragte ich, um ihn gleich zu neutralisieren.

»Ja«, erwiderte er, ohne mit einem Wimperzucken zu verraten, daß er bis vor einer Sekunde von Fräulein Bomblatt nichts gewußt hatte.

»Sie läßt dich grüßen, und du möchtest sie morgen früh gleich anrufen.«

Das war ganz gut wiedergehauen. Ich nickte.»Werde ich machen. Hoffe doch, daß sie den Wagen kaufen wird.«

Lenz öffnete aufs neue den Mund. Ich trat ihn gegen das Schienbein und sah ihn mit einem derartigen Blick an, daß er schmunzelnd aufhörte.

Wir tranken ein paar Glas. Ich nur Sidecars, mit viel Zitrone. Ich wollte nicht wieder von mir selbst überrumpelt werden.

Gottfried war glänzend aufgelegt.»Ich war eben bei dir«, sagte er.»Wollte dich abholen. Hinterher war ich auf dem Rummelplatz. Da ist ein großartiges neues Karussell. Wollen wir mal hin?«Er sah Patrice Hollmann an.

»Sofort!«erwiderte sie.»Ich liebe Karussells über alles!«

»Dann wollen wir gleich aufbrechen«, sagte ich. Ich war froh, daß wir 'rauskamen. Im Freien war die Sache einfacher.

Drehorgelmänner – äußerste Vorposten des Rummelplatzes. Melancholisch süßes Gebrumm. Auf den zerschlissenen Samtdecken der Orgeln manchmal ein Papagei oder ein frierender, kleiner Affe in einer roten Tuchjacke. Dann die scharfen Stimmen der Verkäufer von Porzellankitt, Glasschneidern, türkischem Honig, Luftballons und Anzugstoffen. Das kalte blaue Licht und der Geruch der Karbidlampen. Die Wahrsager, die Sterndeuter, die Pfefferkuchenzelte, die Schiffsschaukeln, die Buden mit den Attraktionen – und endlich, brausend von Musik, bunt, glanzvoll, erleuchtet wie Paläste, die kreisenden Türme der Karussells.

»Los Kinder!«Lenz stürzte sich mit wehenden Haaren auf die Berg-und-Tal-Bahn. Sie hatte das größte Orchester. Bei jeder Runde traten sechs Posaunenbläser aus vergoldeten Nischen, drehten sich nach allen Seiten, schmetterten, schwenkten die Instrumente und traten zurück. Es war glorios.

Wir setzten uns in einen großen Schwan und sausten auf und ab. Die Welt glitzerte und glitt, sie schwankte und fiel in einen schwarzen Tunnel zurück, den wir mit Trommelwirbeln durchjagten, um gleich darauf wieder von Glanz und Posaunen empfangen zu werden.

»Weiter!«Gottfried steuerte auf ein fliegendes Karussell mit Luftschiffen und Aeroplanen zu. Wir enterten einen Zeppelin und machten auf ihm drei Runden.

Etwas atemlos standen wir wieder unten.»Und jetzt zum Teufelsrad!«erklärte Lenz.

Das Teufelsrad war eine große, glatte, in der Mitte etwas erhöhte Scheibe, die sich immer rascher drehte und auf der man sich behaupten mußte. Gottfried bestieg sie mit etwa zwanzig Personen. Er steppte wie ein Rasender und erhielt Sonderapplaus. Zum Schluß war er allein mit einer Köchin, die einen Hintern wie ein Sechstalerpferd hatte. Die schlaue Person setzte sich, als die Sache schwierig wurde, einfach mitten auf die Scheibe, und Gottfried fegte, dicht vor ihr steppend, herum. Die andern waren schon alle heruntergewirbelt. Schließlich ereilte das Schicksal auch den letzten Romantiker; er taumelte in die Arme der Köchin und rollte, umschlungen von ihr, zur Seite. Als er wieder zu uns stieß, führte er die Köchin am Arm. Er nannte sie ohne weiteres Lina. Lina lächelte verschämt. Er fragte, womit er sie bewirten dürfe. Lina erklärte, daß Bier gut gegen Durst sei. Die beiden verschwanden in einem Schuhplattlerzelt.

»Und wir? Wohin gehen wir jetzt?«fragte Patrice Hollmann mit glänzenden Augen.

»Ins Geisterlabyrinth«, sagte ich und zeigte auf eine große Bude.

Das Labyrinth war ein Weg voller Überraschungen. Nach ein paar Schritten wackelte der Boden, Hände tasteten im Dunkel nach einem, Fratzen sprangen aus den Ecken, Gespenster heulten – wir lachten, aber einmal fuhr das Mädchen vor einem grün beleuchteten Totenkopf jäh zurück. Einen Augenblick lag sie in meinem Arm, ihr Atem streifte mein Gesicht, ich fühlte ihr Haar an meinem Mund – gleich darauf lachte sie wieder, und ich ließ sie los.

Ich ließ sie los; aber etwas in mir ließ sie nicht los. Als wir längst draußen waren, fühlte ich immer noch ihre Schulter in meinem Arm, spürte das weiche Haar, den schwachen Pfirsichgeruch ihrer Haut -. Ich vermied, sie anzusehen. Sie war plötzlich anders geworden für mich.

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