»Was ist das, Liebling?«fragte Pat.
Antonio hatte mir eine Radiozeitschrift mitgegeben. Ich schlug nach.»Rom, glaube ich.«
Da kam auch schon die tiefe, metallische Stimme der Ansagerin.»Radio Roma – Napoli – Firenze…«
Ich drehte weiter. Ein Klaviersolo.»Da brauche ich gar nicht nachzuschlagen«, sagte ich.»Das ist die Waldsteinsonate von Beethoven. Die habe ich auch mal spielen können in den Zeiten, als ich noch glaubte, irgendwann mal Studienrat, Professor oder Komponist zu werden. Jetzt kann ich sie längst nicht mehr. Wollen lieber weiterdrehen. Sind keine schönen Erinnerungen.«
Ein warmer Alt, sehr leise und einschmeichelnd.»Parlez – moi d'amour.«-»Paris, Pat.«
Ein Vortrag über die Bekämpfung der Reblaus. Ich drehte weiter. Reklamenachrichten. Ein Quartett.»Was ist das?«fragte Pat.
»Prag. Streichquartett, Opus 59, zwei, Beethoven«, las ich vor.
Ich wartete, bis der Satz zu Ende war, dann drehte ich weiter, und auf einmal war eine Geige da, eine wunderbare Geige.»Das wird Budapest sein, Pat. Zigeunermusik.«
Ich stellte die Skala genau ein. Voll und weich schwebte jetzt die Melodie über dem mitflutenden Orchester von Cimbals, Geigen und Hirtenflöten.»Herrlich, Pat, was?«
Sie schwieg. Ich wandte mich um. Sie weinte mit weit geöffneten Augen. Ich stellte mit einem Ruck den Apparat ab.»Was ist denn, Pat?«Ich legte den Arm um ihre schmalen Schultern.
»Nichts, Robby. Es ist dumm von mir. Nur wenn man das so hört, Paris, Rom, Budapest – mein Gott, und ich wäre schon froh, wenn ich noch einmal ins Dorf hinunter könnte.«
»Aber Pat.«
Ich sagte ihr alles, was ich ihr sagen konnte, um sie darüber wegzubringen. Aber sie schüttelte den Kopf.»Ich bin nicht traurig, Liebling. Du mußt das nicht glauben. Ich bin nicht traurig, wenn ich weine. Es kommt wohl mal so, aber nicht lange. Dafür denke ich viel zuviel nach.«
»Worüber denkst du denn nach?«fragte ich und küßte ihr Haar.
»Über das einzige, worüber ich noch nachdenken kann – über Leben und Sterben. Wenn ich dann traurig bin und nichts mehr verstehe, sage ich mir, daß es besser ist, zu sterben, wenn man noch leben möchte, als zu sterben und man möchte auch sterben. Was meinst du?«
»Ich weiß nicht.«
»Doch.«Sie lehnte den Kopf an meine Schulter.»Wenn man noch leben möchte, dann ist etwas da, was man liebt. Es ist schwerer, aber auch leichter. Sieh, sterben hätte ich doch müssen, und nun bin ich dankbar, daß ich dich hatte. Ich hätte ja auch allein und unglücklich sein können. Dann wäre ich gern gestorben. Jetzt ist es schwer; aber dafür bin ich auch ganz voll Liebe, wie eine Biene voll Honig, wenn sie abends in den Stock zurückkommt. Wenn ich wählen sollte – ich würde zwischen beiden immer wieder dasselbe wählen.«Sie sah mich an.»Pat«, sagte ich,»es gibt noch ein Drittes – wenn der Föhn aufhört, dann wird es dir besser gehen, und wir werden hier fortfahren.«Sie blickte mich weiter prüfend an.»Um dich habe ich Angst, Robby. Für dich ist es viel schwerer als für mich.«»Wir wollen nicht mehr darüber sprechen«, sagte ich.»Ich habe es nur gesagt, damit du nicht denkst, ich sei traurig«, erwiderte sie.»Ich glaube auch nicht, daß du traurig bist.«Sie legte ihre Hand auf meinen Arm.»Willst du nicht dir Zigeuner wieder spielen lassen?«
»Willst du sie hören?«
»Ja, Liebling.«
Ich stellte den Apparat wieder an, und leise, dann immer voller klang die Geige mit den Flöten und den gedämpften Arpeggien der Cimbals durch das Zimmer.
»Schön«, sagte Pat.»Wie ein Wind. Ein Wind, der einen wegträgt.«
Es war ein Abendkonzert aus einem Gartenrestaurant in Budapest. Das Gespräch der Gäste war manchmal durch das Raunen der Musik zu vernehmen, und ab und zu hörte man einen hellen, fröhlichen Ruf. Man konnte denken, daß jetzt auf der Margaretheninsel die Kastanien schon das erste Laub hatten und daß es blaß im Monde schimmerte und sich bewegte, als würde es durch den Geigenwind angeweht. Vielleicht war es auch schon ein warmer Abend, und die Leute saßen im Freien und hatten Gläser mit dem gelben ungarischen Wein vor sich stehen, die Kellner liefen in ihren weißen Jacken hin und her, die Zigeuner spielten, nachher ging man durch die grüne Frühjahrsdämmerung müde nach Hause, und da lag Pat und lächelte und würde nie wieder aus diesem Zimmer herauskommen, nie wieder aus diesem Bette aufstehen.
Dann, plötzlich, ging alles sehr schnell. Das Fleisch ihres Gesichtes schmolz. Die Backenknochen traten hervor, und an den Schläfen kam die Stirn durch. Die Arme waren dünn wie Kinderarme, die Rippen spannten sich unter der Haut, und das Fieber raste in immer neuen Stößen durch den schmalen Körper. Die Schwester brachte Sauerstoffballons, und der Arzt kam jede Stunde.
Eines Nachmittags sank das Fieber unerklärlicherweise rasch. Pat wachte auf und sah mich lange an.»Gib mir einen Spiegel«, flüsterte sie dann.
»Wozu willst du einen Spiegel?«sagte ich.»Ruh dich aus, Pat. Ich glaube, du bist jetzt durch. Du hast kein Fieber mehr.«
»Nein«, flüsterte sie mit ihrer zerborstenen, verbrannten Stimme,»gib mir den Spiegel.«
Ich ging um das Bett herum, nahm den Spiegel und ließ ihn fallen. Er zersprang.»Entschuldige«, sagte ich.»So was ungeschicktes. Fällt mir einfach aus der Hand und ist auch gleich in tausend Scherben.«
»In meiner Tasche ist noch einer, Robby.«
Es war ein kleiner Spiegel aus verchromtem Nickel. Ich wischte mit der Hand darüber, damit er etwas erblindete, und gab ihn Pat. Sie rieb ihn mühsam sauber und sah angestrengt hinein.»Du mußt abreisen, Liebling«, flüsterte sie dann.
»Warum denn? Magst du mich nicht mehr?«
»Du sollst mich nicht mehr sehen. Das bin ich nicht mehr.«
Ich nahm ihr den Spiegel ab.»Diese Metalldinger taugen nichts, Pat. Sieh nur, wie ich darin ausschaue. Blaß und mager. Dabei bin ich doch braun und kräftig. Ganz wellig ist das Ding.«
»Du sollst eine andere Erinnerung an mich behalten«, flüsterte sie.»Fahr weg, Liebling. Ich werde schon allein damit fertig.«
Ich beruhigte sie. Sie verlangte den Spiegel wieder und ihre Tasche. Dann begann sie sich zu pudern, das arme, abgezehrte Gesicht, die zerrissenen Lippen, die schweren, braunen Höhlen unter den Augen.»Nur etwas, Liebling«, sagte sie und versuchte zu lächeln,»du sollst mich nicht häßlich sehen.«
»Du kannst machen, was du willst«, sagte ich,»du wirst nie häßlich sein. Für mich bist du die schönste Frau, die ich je gesehen habe.«
Ich nahm den Spiegel und die Puderdose fort und legte meine Hände vorsichtig um ihren Kopf. Nach einiger Zeit wurde sie unruhig.
»Was ist, Pat?«fragte ich.
»Es tickt so laut«, flüsterte sie.
»Was? Die Uhr?«
Sie nickte.»Es dröhnt so…«
Ich machte die Uhr von meinem Handgelenk los.
Sie blickte angstvoll auf den Sekundenzeiger.»Tu sie weg…«
Ich nahm die Uhr und warf sie gegen die Wand.»So, jetzt tickt sie nicht mehr. Jetzt steht die Zeit still. Wir haben sie mitten durchgerissen. Nur wir beide sind noch da, nur wir beide, du und ich, und niemand sonst.«
Sie sah mich an. Ihre Augen waren sehr groß.»Liebling…«flüsterte sie.
Ich konnte ihren Blick nicht ertragen. Er kam weit her und ging durch mich hindurch, irgendwohin.»Alter Bursche«, murmelte ich,»mein geliebter, tapferer, alter Bursche.«
Sie starb in der letzten Stunde der Nacht, bevor es Morgen wurde. Sie starb schwer und qualvoll, und niemand konnte ihr helfen. Sie hielt meine Hand fest, aber sie wußte nicht mehr, daß ich bei ihr war. Irgendwann sagte jemand:»Sie ist tot…«
»Nein«, erwiderte ich,»sie ist noch nicht tot. Sie hält meine Hand noch fest…«
Licht. Unerträgliches, grelles Licht. Menschen. Der Arzt. Ich öffnete langsam meine Hand. Pats Hand fiel herunter. Blut. Ein verzerrtes, ersticktes Gesicht. Qualvolle, starre Augen. Braunes, seidiges Haar.
»Pat«, sagte ich.»Pat!«