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»Sei nicht beleidigt. Ich meine es ohne Hintergedanken. Du hast uns oft genug über Wasser gehalten.«

Lebenthal lächelte geschmeichelt.»Man tut, was man kann. Immer gut, einen praktischen Geschäftsmann zwischen sich zu haben. Wenn ich irgendwas für euch tun kann – wie ist es mit dir, Bucher? Willst du hierbleiben?«

»Nein. Ich warte darauf, daß Ruth etwas kräftiger wird.«

»Gut.«Lebenthal zog eine amerikanische Füllfeder aus der Tasche und schrieb etwas auf.»Hier ist meine Adresse in der Stadt. Im Falle -«

»Woher hast du den Füllfederhalter?«fragte Berger.

»Getauscht. Die Amerikaner sind verrückt nach Andenken aus dem Lager.«

»Was?«

»Sie sammeln. Andenken. Alles. Pistolen, Dolche, Abzeichen, Peitschen, Flaggen – es ist ein gutes Geschäft. Ich habe gründlich vorgesorgt. Mich eingedeckt.«

»Leo«, sagte Berger.»Es ist gut, daß es dich gibt.«Lebenthal nickte ohne Erstaunen.

»Bleibst du vorläufig hier?«»Ja, ich bleibe hier.«

»Dann sehe ich dich noch ab und zu. Ich schlafe in der Stadt, werde aber zum Essen hier heraufkommen.«»Das dachte ich mir,«»Klar. Hast du Zigaretten genug?«

»Nein.«»Hier.«Lebenthal zog zwei ungeöffnete Päckchen aus den Taschen und gab je eines an Berger und Bucher.

»Was hast du noch?«fragte Bucher.

»Konserven.«Lebenthal sah nach seiner Uhr.»Ich muß los -«

Er holte unter seinem Bett einen neuen amerikanischen Regenmantel hervor und zog ihn an. Keiner sagte mehr etwas dazu. Hätte er ein Auto draußen gehabt, hätte es die anderen auch nicht gewundert.»Verliert die Adresse nicht«, sagte er zu Bucher.

»Wäre schade, wenn wir uns nicht wiedersehen würden.«

»Wir werden sie nicht verlieren,«

»Wir gehen zusammen«, sagte Ahasver.»Karel und ich.«Sie standen vor Berger.

»Bleibt noch ein paar Wochen hier«, sagte der.»Ihr seid noch nicht kräftig genug.«

»Wir wollen weg.«»Wißt ihr, wohin?«»Nein.«

»Warum wollt ihr dann fort?«

Ahasver machte eine unbestimmte Gebärde.»Wir waren lange genug hier.«

Er trug einen altmodischen, grauschwarzen Havelock, einen Mantel mit einer Art Kutscherkragen, der bis zum Ellbogen reichte. Lebenthal, der bereits im Geschäft war, hatte ihn für ihn besorgt. Er stammte aus dem Nachlaß eines Gymnasialprofessors, der beim letzten Bombardement getötet worden war.

Karel war in eine Kombination von amerikanischen Uniformstücken gekleidet.

»Karel muß fort«, sagte Ahasver.

Bucher kam hinzu. Er musterte Karels Anzug.»Was ist mit dir los?«»Die Amerikaner haben ihn adoptiert. Das Regiment, das zuerst hier durch» kam. Sie haben einen Jeep geschickt, ihn zu holen.

Ich fahre ein Stück mit.«»Haben sie dich auch adoptiert?«

»Nein. Ich fahre nur das Stück mit.«»Und dann?«

»Dann?«Ahasver blickte zum Tal hinunter. Sein Mantel flatterte im Winde.»Da sind so viele Lager, wo ich Bekannte hatte -«

Berger blickte ihn an. Lebenthal hat ihn richtig angezogen, dachte er. Er sieht, wie ein Pilgrim aus.

Er wird von einem Lager zum anderen pilgern. Von einem Grabe zum anderen. Aber wer hatte als Gefangener schon den Luxus eines Grabes gehabt? Was wollte er dann suchen?

»Weißt du«, sagte Ahasver.»Manchmal trifft man Leute ganz unvermutet irgendwo auf der Straße.«

»Ja, Alter.«

Sie sahen den beiden nach.

»Sonderbar, daß wir alle so auseinandergehen«, sagte Bucher.

»Gehst du auch bald?«

»Ja. Wir sollten uns aber nicht einfach so verlieren.«

»Doch«, sagte Berger.»Doch.«

»Wir sollten uns wiedertreffen. Nach alldem hier. Irgendwann.«

»Nein.«

Bucher blickte auf.»Nein«, wiederholte Berger.»Wir sollen es nicht vergessen. Aber wir sollen auch keinen Kult daraus machen. Sonst bleiben wir immer im Schatten dieser verfluchten Türme.«

Das Kleine Lager war leer. Man hatte es gesäubert und die Bewohner im Arbeitslager und in den SS-Kasernen untergebracht. Man hatte Ströme von Wasser und Seife und desinfizierenden Mitteln gebraucht; aber der Geruch nach Tod und Schmutz und Elend hing immer noch darüber. In die Stacheldrahtzäune waren überall Durchgänge eingeschnitten worden.

»Glaubst du, daß du nicht müde werden wirst?«fragte Bucher Ruth.

»Nein.«

»Dann wollen wir gehen. Was ist heute für ein Tag?«

»Donnerstag.«

»Donnerstag. Gut, daß die Tage wieder Namen haben. Hier hatten sie nur Zahlen.

Sieben in einer Woche. Alle gleich.«

Sie hatten sich ihre Papiere von der Lagerverwaltung geben lassen.»Wohin wollen wir gehen?«

fragte Ruth.

»Dorthin.«Bucher zeigte auf den Hang, auf dem das weiße Haus stand.»Wir wollen zuerst dorthin gehen und es nahe ansehen. Es hat uns Glück gebracht.«

»Und dann?«

»Dann? Wir können hierher zurückkommen. Es gibt Essen hier.«

»Laß uns nicht zurückkommen. Nie mehr.«

Bucher sah Ruth überrascht an.»Gut. Warte. Ich hole unsere Sachen.«

Es war nicht viel; aber sie hatten Brot für einige Tage und zwei Büchsen kondensierter Milch dabei.

»Gehen wir wirklich?«fragte sie.

Er sah die Spannung in ihrem Gesicht.»Ja, Ruth«, sagte er.

Sie verabschiedeten sich von Berger und gingen zu der Tür, die in die Stacheldrahtumzäunung des Kleinen Lagers geschnitten war. Sie waren schon einige Male außerhalb des Lagers gewesen, wenn auch nie weit – aber es war jedesmal wieder die gleiche Erregung, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen. Unsichtbar schienen immer noch der elektrische Strom dazusein und die Maschinengewehre, die genau auf den kahlen Streifen Weg rundum eingestellt waren, ein Schauer durchlief sie beim ersten Schritt über die Drahteinfassung hinaus. Doch dann war endlos die Welt da.

Sie gingen langsam nebeneinander her. Es war ein weicher, verhangener Tag.

Sie hatten durch Jahre kriechen, rennen und schleichen müssen – jetzt gingen sie ruhig und aufrecht, und keine Katastrophe folgte. Niemand schoß hinter ihnen her. Niemand schrie. Niemand schlug auf sie ein.

»Es ist unbegreiflich«, sagte Bucher.»Jedesmal wieder.«

»Ja. Es macht einem fast Angst.«

»Sieh nicht zurück. Wolltest du dich umsehen?«

»Ja. Es sitzt einem noch im Nacken. Als ob jemand im Kopfe hockte und ihn herumdrehen wollte.«

»Laß uns einmal versuchen, es zu vergessen. Solange wir können.«

»Gut.«

Sie gingen weiter und überquerten einen Weg. Eine Wiese lag vor ihnen, grün und überweht vom Gelb der Primeln. Sie hatten sie oft vom Lager aus gesehen. Bucher dachte einen Augenblick an die armseligen, vertrockneten Primeln Neubauers neben Baracke 22. Er schüttelte es ab.»Komm, wir wollen da hindurchgehen.«

»Darf man das?«

»Ich glaube, wir dürfen vieles. Und wir wollen doch keine Angst mehr haben.«

Sie fühlten das Gras unter ihren Füßen und an ihren Schuhen. Auch das kannten sie nicht mehr. Sie kannten nur den harten Grund der Appellplätze.»Laß uns nach links gehen«, sagte Bucher.

Sie gingen nach links. Ein Haselnußbusch streifte sie. Sie gingen um ihn herum und bogen seine Zweige auseinander und fühlten seine Blätter und Knospen. Auch das war neu.»Komm, jetzt gehen wir nach rechts«, sagte Bucher.

Sie gingen nach rechts. Es schien kindisch, aber es gab ihnen eine tiefe Befriedigung.

Sie konnten tun, was sie wollten. Niemand befahl ihnen etwas. Niemand schrie und schoß. Sie waren frei.»Es ist wie ein Traum«, sagte Bucher.»Man hat nur Angst, daß man aufwacht und daß dann wieder die Baracke und der Ekel da ist.«

»Es ist eine andere Luft hier.«Ruth atmete tief.»Es ist lebendige Luft. Keine tote.«

Bucher sah sie aufmerksam an. Ihr Gesicht war etwas gerötet, und ihre Augen glänzten plötzlich.

»Ja, es ist lebendige Luft. Sie riecht. Sie stinkt nicht.«

Sie standen neben den Pappeln.»Wir können uns hierhersetzen«, sagte er.»Niemand wird uns aufjagen. Wir können sogar tanzen, wenn wir wollen.«

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