»Ich bringe sie morgen. Oder ich kann sie vernichten.«»Kann ich mich darauf verlassen?«
»Unbedingt.«
Dreyer überlegte einen Augenblick.»Du bist ja jetzt mit drin«, sagte er.»Mehr als ich.
Oder nicht?«»Viel mehr.«»Und wenn was 'rauskommt -«
»Ich rede nicht. Ich habe Gift. Ich werde nicht reden.«
»Ihr habt scheinbar wirklich alles.«Dreyers Gesicht zeigte eine Art von widerwilligem Respekt.
»Ich wußte das nicht.«
Sonst hätte ich besser aufgepaßt, dachte er. Diese verfluchten Dreivierteltoten! Selbst denen konnte man nicht trauen.»Fang schon mit dein Aufzug an -«Er wollte gehen.
»Hier ist noch etwas«, sagte Berger.
»Was?«
Berger holte fünf Mark aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Dreyer steckte sie ein.
»Wenigstens etwas für das Risiko -«
»Nächste Woche kommen noch fünf Mark -«
»Und – wofür?«
»Nichts. Einfach noch fünf Mark für dieses hier.«
»Gut.«Dreyer verzog die Lippen, hörte aber gleich auf damit; der Furunkel schmerzte.
»Man ist ja schließlich kein Unmensch«, sagte er.»Hilft immer gern einem Kameraden.«
Er ging. Berger lehnte sich gegen die Wand. Ihm war schwindelig. Es war besser gegangen, als er erwartet hatte. Er machte sich nichts vor; er wußte, daß Dreyer immer noch darüber nachdachte, wie er ihn erledigen konnte. Es war einstweilen abgebogen worden durch die Drohung mit der Untergrundbewegung und das Versprechen der zweiten fünf Mark. Dreyer würde darauf warten.
Man konnte sich bei Kriminellen darauf verlassen, daß sie ihren Vorteil wahrnahmen; das war eine Lehre, die die Veteranen bei Handke gelernt hatten. Das Geld war von Lewinsky und seiner Gruppe gekommen. Sie würden weiterhelfen. Berger fühlte nach der Jacke, die er umgebunden hatte. Sie saß fest. Man konnte nichts sehen. Er war dünn, und seine eigene Jacke hing auch jetzt noch lose um ihn herum. Sein Mund war trocken. Die Leiche mit der falschen Nummer lag vor ihm.
Er zerrte von dem Haufen eine andere und schob sie neben den falschen Toten. Im gleichen Augenblick kam ein Neuer durch die Öffnung gesaust. Die Ablader hatten wieder angefangen.
Dreyer erschien mit den drei Häftlingen. Er warf einen Blick auf Berger.»Was machst du hier?
Weshalb bist du nicht draußen?«schnauzte er.
Es war für das Alibi. Die drei anderen sollten sich einprägen, daß Berger allein unten gewesen war.
»Ich hatte noch einen Zahn zu ziehen«, sagte Berger.
»Quatsch! Du hast zu tun, was befohlen wird. Da kann ja alles mögliche passieren.«
Dreyer setzte sich umständlich an den Tisch mit den Listen.»Weitermachen!«kommandierte er.
Schulte kam kurz darauf. Er hatte eine Ausgabe von Knigges»Umgang mit Menschen«in der Tasche, holte sie hervor und begann zu lesen.
Die Toten wurden weiter entkleidet. Der dritte in der Reihe war der Mann mit der falschen Jacke.
Berger hatte es so arrangiert, daß zwei der Helfer ihn auszogen. Er hörte sie die Nummer 509 melden. Schulte blickte nicht auf. Er las in dem klassischen Buch über Etikette die Regeln über das Essen von Fisch und Krebsen nach. Er erwartete im Mai eine Einladung der Eltern seiner Verlobten und wollte gerüstet sein. Dreyer schrieb gleichgültig die Personalien auf und verglich sie mit den Meldungen der Blocks. Der vierte Tote war wieder ein Politischer. Berger meldete ihn selbst. Er sagte die Nummer etwas lauter und merkte, daß Dreyer aufblickte. Er brachte die Sachen des Toten zum Tisch. Dreyer sah ihn an. Berger machte ein Zeichen mit den Augen. Dann nahm er die Zange und die Taschenlampe und beugte sich über den Toten. Er hatte erreicht, was er wollte. Dreyer glaubte, der Name des vierten sei der des noch Lebenden, der umgetauscht worden war – nicht der des dritten. Er war so von der Spur geworfen und konnte in keinem Falle etwas verraten.
Die Tür öffnete sich. Steinbrenner trat ein. Ihm folgten Breuer, der Bunkeraufseher, und der Scharführer Niemann. Steinbrenner lächelte Schulte zu.»Wir sollen dich ablösen, wenn die Toten hier verbucht sind. Befehl von Weber.«
Schulte klappte sein Buch zu.»Sind wir soweit?«fragte er Dreyer.
»Da sind noch vier Leichen.«
»Gut, macht fertig.«
Steinbrenner lehnte sich gegen die Wand, an der die Kratzer der Gehängten sichtbar waren.
»Macht nur fertig. Wir haben Zeit. Und schickt dann die fünf Leute, die oben eingeworfen haben, herunter. Wir haben eine Überraschung für sie.«
»Ja«, sagte Breuer.»Heute ist mein Geburtstag.«
»Wer von euch ist 509?«fragte Goldstein.
»Warum?«
»Ich bin hierher überwiesen worden.«
Es war Abend, und Goldstein war mit einem Transport von zwölf anderen zum Kleinen Lager gekommen.»Lewinsky schickt mich«, sagte er zu Berger.
»Bist du in unserer Baracke?«
»Nein. In Baracke 21. Es war in der Eile nicht anders zu machen. Man kann das später ändern. Es war höchste Zeit, daß ich wegkam. Wo ist 509?«
»509 existiert nicht mehr.«
Goldstein blickte auf.»Tot oder versteckt?«
Berger zögerte.»Du kannst ihm trauen«, sagte 509, der neben ihm hockte.»Lewinsky hat von ihm gesprochen, als er das letzte Mal hier war.«
Er wandte sich zu Goldstein.»Ich heiße jetzt Flormann. Was gibt es Neues? Wir haben lange nichts von euch gehört.«
»Lange? Zwei Tage -«
»Das ist lange. Was gibt es Neues? Komm hier herüber. Hier kann keiner zuhören.«
Sie setzten sich abseits von den anderen.»Gestern nacht haben wir in Block 6 über unser Radio Nachrichten hören können. Englische. Wir hatten viele Störungen; aber eine kam klar durch. Die Russen beschießen bereits Berlin.«
»Berlin?«
»Ja -«
»Und die Amerikaner und Engländer?«
»Da waren keine neuen Nachrichten. Wir hatten Störungen und mußten vor» sichtig sein. Das Ruhrgebiet ist eingekreist, und sie sind weit über den Rhein, das ist sicher.«509 starrte auf den Stacheldraht, hinter dem ein Streifen Abendrot unter schweren Regenwolken glomm.»Wie langsam das alles geht -«
»Langsam? Das nennst du langsam? In einem Jahr sind die deutschen Armeen von Rußland bis nach Berlin und von Afrika bis zur Ruhr zurückgetrieben worden – und du redest von langsam?«
509 schüttelte den Kopf.»Das meine ich nicht. Es ist langsam für hier. Für uns. Auf einmal!
Verstehst du das nicht? Ich bin viele Jahre hier – aber dieses scheint das langsamste Frühjahr von allen zu sein. Es ist langsam, weil es so schwer ist, zu warten.«
»Ich verstehe.«Goldstein lächelte. Die Zähne standen kreidig in seinem grauen Gesicht.»Ich kenne das. Nachts besonders. Wenn man nicht schlafen kann und keine Luft kriegt.«Seine Augen lächelten nicht mit. Sie blieben ausdruckslos und bleifarben.
»Verdammt langsam ist es, wenn du es so nimmst.«
»Ja, das meine ich. Vor ein paar Wochen wußten wir noch nichts. Jetzt er«scheint alles schon langsam. Sonderbar, wie sich das verändert, wenn man Hoffnung hat. Und wartet. Und Angst hat, daß man noch erwischt wird.«509 dachte an Handke. Er war noch nicht außer Gefahr. Die Schiebung wäre halbwegs ausreichend gewesen, wenn Handke 509 nicht persönlich gekannt hätte.
509 wäre dann einfach der Tote geworden, so wie der Tote als 509 verbucht war. Jetzt war er offiziell tot und hieß Flormann, doch er befand sich immer noch im Kleinen Lager.
Etwas anderes war nicht zu erreichen gewesen; es war schon viel, daß der Blockälteste von Baracke 20, in der Flormann gestorben war, mitgemacht hatte. 509 mußte vorsichtig sein, damit Handke ihn nicht sah. Er mußte auch vorsichtig sein, damit nicht irgendein anderer ihn verriet.
Außerdem war immer noch Weber da, der ihn bei einer unvermuteten Kontrolle wiedererkennen konnte.
»Bist du allein gekommen?«fragte er Goldstein.
»Nein. Es sind noch zwei andere mitgeschickt worden.«
»Kommen noch mehr?«
»Wahrscheinlich. Aber nicht offiziell als Überweisungen. Wir haben drüben mindestens fünfzig bis sechzig Leute versteckt.«