Литмир - Электронная Библиотека
A
A

»Was?«

»Fünftausend Schweizer Franken. Sie liegen in einem Bankfach in Zürich.«

Handke lachte.»Und das soll ich dir Jammerlappen glauben?«

»Ich war nicht immer ein Jammerlappen.«

Handke starrte 509 eine Weile an.»Ich verschreibe Ihnen die Hälfte des Geldes«, sagte 509 hastig.»Eine einfache Überschreibung genügt, und es gehört Ihnen. Zweitausendfünfhundert Schweizer Franken.«Er blickte in das harte, ausdruckslose Gesicht vor sich.»Der Krieg ist bald zu Ende. Geld in der Schweiz ist dann gut.«Er wartete. Handke antwortete noch immer nicht.

»Wenn der Krieg verloren ist«, fügte 509 langsam hinzu.

Handke hob den Kopf.»So«, sagte er leise.»Darauf rechnest du also schon, was? Hast dir alles fein ausgedacht, wie? Das werden wir dir aber mal gründlich versalzen! Hast dich selber 'reingelegt – jetzt hat dich die Politische Abteilung auch noch -, verbotener Devisenbesitz im Ausland! Kommtnoch zu dem anderen dazu! Mensch, deinen Kopf möchte ich nicht haben.«

»Zweitausendfünfhundert Franken haben und nicht haben ist nicht dasselbe -«

»Für dich auch nicht. Scher dich weg!«brüllte Handke plötzlich und stieß 509 so heftig vor die Brust, daß er stürzte.

Langsam richtete 509 sich auf. Berger kam heran. Handke war im Dunkeln verschwunden. 509 wußte, daß Nachlaufen keinen Zweck mehr hatte; Handke war auch schon zu weit fort.»Was ist passiert?«fragte Berger eilig.

»Er hat es nicht genommen.«

Berger antwortete nicht. Er blickte 509 an. 509 sah, daß Berger einen Knüppel in der Hand hielt.

»Ich habe ihm noch viel mehr angeboten«, sagte er.»Er wollte nicht.«Er blickte verstört um sich.

»Ich muß irgend etwas falsch gemacht haben. Ich weiß nicht was.«

»Was kann er nur gegen dich haben?«

»Er konnte mich nie leiden.«509 strich sich über die Stirn.»Es ist jetzt auch egal. Ich habe ihm sogar Geld in der Schweiz angeboten. Franken. Zweitausendfünfhundert. Er wollte nicht.«

Sie kamen zur Baracke. Sie brauchten nichts zu sagen; die anderen wußten schon, was los war.

Alle standen, wo sie vorher gestanden hatten; keiner rückt ab – aber es war, als habe sich um 509 bereits ein freier Platz gebildet, ein unsichtbarer, unüberschreitbarer Ring, der ihn isolierte: die Einsamkeit des Todes.»Verflucht!«sagte Rosen.

509 sah ihn an. Er hatte ihn morgens gerettet. Es war sonderbar, daß er es hatte tun können und daß er jetzt schon irgendwo war, von wo er keine Hand mehr ausstrecken konnte.»Gib mir die Uhr«, sagte er zu Lebenthal.

»Komm in die Baracke«, sagte Berger.»Wir müssen überlegen -«

»Nein. Jetzt kann man nur noch warten. Gib mir die Uhr. Und laßt mich allein -«

Er saß allein. Die Zeiger der Uhr schimmerten grünlich in der Finsternis Dreißig Minuten Zeit, dachte er. Zehn Minuten bis zu den Verwaltungsgebäuden; zehn Minuten für die Meldung und die Befehle; zehn Minuten zurück Ein Halbkreis des großen Zeigers – das war sein Leben jetzt.

Es war vielleicht mehr, dachte er plötzlich. Wenn Handke die Meldung wegen des Schweizer Geldes machte, würde die Politische Abteilung eingreifen. Sie würde versuchen, das Geld zu bekommen, und ihn so lange leben lassen, bis sie es hatte. Er hatte nicht daran gedacht, als er es Handke gesagt hatte – nur an die Habgier des Blockältesten. Es war eine Chance. Aber es war nicht sicher, ob Handke das Geld melden würde. Vielleicht meldete er, daß Weber 509 sehen wollte.

Bucher kam leise durch das Dunkel.»Hier ist noch eine Zigarette«, sagte er zögernd.

»Berger will, daß du hereinkommst und sie rauchst.«

Zigarette. Richtig, die Veteranen hatten noch eine. Eine von denen, die Lewinsky gebracht hatte, nach den Tagen im Bunker. Der Bunker – jetzt wußte er, wer die dunkle Figur gegen den Himmel gewesen war, an die Handke ihn erinnert hatte, und wo er sie gesehen hatte. Es war Weber gewesen. Weber, von dem alles ausgegangen war.

»Komm«, sagte Bucher.

509 schüttelte den Kopf. Die Zigarette. Die Henkersmahlzeit. Die Henkerszigarette.

Wie lange rauchte man daran? Fünf Minuten? Zehn, wenn man langsam rauchte? Ein Drittel seiner Zeit. Zuviel. Er mußte anderes tun. Aber was? Es war nichts zu tun. Sein Mund war plötzlich trocken vor Gier nach dem Tabak. Er wollte nicht. Wenn er rauchte, gab er zu, daß er verloren war.»Geh weg!«flüsterte er wütend.»Geh weg mit deiner Scheißzigarette!«Er erinnerte sich an eine ähnliche Gier. Dieses Mal brauchte er nicht lange zu suchen. Neubauers Zigarre war es gewesen, damals, als Weber ihn und Bücher, verprügelt hatte, Weber, wieder. Wie immer. Wie vor Jahren – Er wollte nicht an Weber denken. Jetzt nicht. Er sah auf die Uhr. Fünf Minuten waren vergangen. Er blickte auf den Himmel. Die Nacht war feucht und sehr milde. Es war eine Nacht, in der alles wuchs. Eine Nacht der Wurzeln und Knospen. Frühling. Der erste Frühling mit Hoffnung. Es war eine zerfetzte, verzweifelte Hoffnung gewesen, nur der Schatten einer Hoffnung, ein sonderbares, schwaches Echo aus gestorbenen Jahren, aber schon das war riesig gewesen und hatte schwindlig gemacht und alles verändert. Er hätte Handke nicht sagen sollen, daß der Krieg verloren war, dachte etwas in ihm. Zu spät. Er hatte es getan. Der Himmel schien dunkler zu werden, staubiger, verkohlter, niedriger, ein endloser Deckel, der sich voll Drohung senkte. 509 atmete mühsam. Er wollte wegkriechen, den Kopf in eine Ecke stecken, ihn in Erde verbergen, retten, das Herz herausreißen, es verstecken, damit es weiterschlagen würde, wenn – Vierzehn Minuten. Ein Murmeln hinter ihm, eintönig, singend, fremdartig. Ahasver, dachte er. Ahasver, der betet. Er hörte es, und es schien Stunden zu dauern, ehe er sich erinnerte, was es war. Es war dasselbe Murmeln und Singen, das er oft gehört hatte – das Gebet für die Toten, Kaddisch. Ahasver sagte bereits Kaddisch über ihn.»Ich bin noch nicht tot, Alter«, sagte er nach rückwärts.»Noch lange nicht. Hör auf mit dem Beten -«Jemand antwortete. Es war Bucher.»Er betet nicht«, sagte er. 509 hörte es nicht mehr. Er fühlte plötzlich, wie es kam. Er hatte viele Ängste in seinem Leben kennengelernt, er kannte die graue, molluskenhafte Angst der endlosen Gefangenschaft, er kannte die scharfe, zerreißende Angst kurz vor der Folter, er kannte die tiefe, huschende Furcht vor der eigenen Verzweiflung – er kannte sie alle, und er hatte sie bestanden, er kannte sie, aber er wußte auch um die andere, die letzte, und er wußte, daß sie jetzt da war: die Angst der Ängste, die große Angst vor dem Tode. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt, und er hatte geglaubt, sie würde nie wiederkommen, er könne sie nicht mehr haben, sie sei aufgesogen worden vom Elend, von der steten Todesnähe und von der letzten Gleichgültigkeit. Nicht einmal, als er mit Bucher zur Schreibstube ging, hatte er sie gefühlt – aber jetzt spürte er ihre Eistropfen in seinen Wirbeln, und er wußte, daß es so war, weil er wieder Hoffnung gehabt hatte, er spürte sie, und sie war Eis und Leere und Zerfallen und lautloser Schrei. Er hielt die Hände auf den Boden gestemmt und starrte geradeaus. Das war kein Himmel mehr, dieses saugende, tödliche Grauen dort über ihm! Wo war das Leben darunter? Wo war der süße Laut des Wachsens? Wo waren die Knospen? Wo das Echo, das sanfte Echo der Hoffnung? Flackernd, erlöschend in bitteren Agonien, zischte der letzte, armselige Funke in den Därmen, und bleiern erstarrte die Welt in Sturz und Furcht. Das Murmeln. Wo war das Murmeln geblieben? Da war auch kein Murmeln mehr. 509 hob sehr langsam die Hand. Er zögerte, bevor er sie öffnete, als hielte sie einen Diamanten, der in Kohle verwandelt sein könnte. Er ließ die Finger los und wartete noch einige Atemzüge, bevor er hinsah auf die beiden bleichen Striche, die sein Schicksal umgrenzten. Fünfunddreißig Minuten. Fünfunddreißig! Fünf Minuten mehr als die dreißig, auf die er gerechnet hatte. Fünf mehr; fünf entsetzlich kostbare, wichtige Minuten. Aber es war möglich, daß es fünf Minuten länger gedauert hatte, die Meldung bei der Politischen Abteilung anzubringen – oder Handke konnte sich mehr Zeit genommen haben. Sieben Minuten mehr. 509 saß still. Er atmete, und er fühlte wieder, daß er atmete.

38
{"b":"99739","o":1}