»Etwas ganz anderes. Das waren strategische Notwendigkeiten. Dieses hier ist reiner Mord.«
Alfred erwiderte nichts. Er dachte an seine Mutter, an Warschau, an Rotterdam und Coventry und den fetten deutschen Luftmarschall und riß den Wagen um die Ecke.
»Man darf nicht so denken, Alfred. Das ist schon fast Hochverrat! Verständlich im Augenblick Ihres Schmerzes natürlich, aber verboten. Ich will es nicht gehört haben.
Befehl ist Befehl, das genügt für unser Gewissen. Reue ist undeutsch. Falsches Denken auch. Der Führer weiß schon, was er tut. Wir folgen ihm, fertig. Diesen Massenmördern wird er es schon noch heimzahlen! Doppelt und dreifach! Mit unseren geheimen Waffen! Wir kriegen sie zu Boden!
Schon jetzt beschießen wir England Tag und Nacht mit unseren V-1 Geschossen. Wir werden die ganze Insel in Asche legen mit all den neuen Erfindungen, die wir haben. Im letzten Moment! Und Amerika dazu!
Sie müssen bezahlen! Doppelt und dreifach! Doppelt und dreifach«, wiederholte Neubauer und wurde zuversichtlich und begann selbst fast zu glauben, was er redete.
Er holte eine Zigarre aus einem Lederetui und biß die Spitze ab. Er wollte noch weitersprechen. Er hatte plötzlich ein großes Bedürfnis danach – aber er schwieg, als er Alfreds zusammengepreßte Lippen sah. Wer kümmert sich schon um mich, dachte er.
Jeder ist nur mit sich beschäftigt. Ich sollte zu meinem Garten vor der Stadt fahren.
Die Kaninchen, weich und flaumig, mit roten Augen in der Dämmerung. Immer, schon als Junge, hatte er Kaninchen haben wollen. Sein Vater hatte es verboten. Jetzt hatte er sie. Der Geruch nach Heu und Fell und frischen Blättern. Die Geborgenheit der Knabenerinnerung. Vergessene Träume.
Manchmal war man verdammt allein.
Hundertdreißigtausend Mark. Das Höchste, was er als Junge gehabt hatte, waren fünfundsiebzig Pfennig gewesen. Zwei Tage später hatte man sie ihm gestohlen.
Feuer um Feuer sprang auf. Es war die alte Stadt, die wie Zunder brannte. Sie bestand fast nur aus Holzhäusern. Der Fluß spiegelte die Flammen, als brenne auch er.
Die Veteranen, die gehen konnten, hockten in einem schwarzen Klumpen vor der Baracke. Im roten Dunkel konnten sie sehen, daß die Maschinengewehrstände noch leer waren. Der Himmel war bedeckt; die weiche, graue Wolkenschicht war angestrahlt wie Flamingogefieder. Das Feuer funkelte selbst in den Augen der Toten, die aufeinandergeschichtet hinter ihnen lagen.
Ein leises Scharren weckte die Aufmerksamkeit von 509. Lewinskys Gesicht hob sich vom Boden.
509 atmete tief und stand auf. Er hatte auf diesen Augenblick gewartet, seit er wieder kriechen konnte. Er hätte sitzenbleiben können, aber er stand auf; er wollte Lewinsky zeigen, daß er gehen konnte und kein Krüppel war.
»Alles wieder in Ordnung?«fragte Lewinsky.
»Natürlich. So leicht kriegt man uns nicht kaputt.«
Lewinsky nickte.»Können wir irgendwo reden?«
Sie gingen auf die andere Seite des Totenhaufens. Lewinsky blickte rasch um sich.
»Die Wachen sind bei euch noch nicht zurück -«
»Hier ist nicht viel zu bewachen. Bei uns bricht keiner aus.«
»Das meine ich. Und nachts werdet ihr nicht kontrolliert?«
»So gut wie nie.«
»Wie ist es am Tage? Kommt die SS oft in die Baracken?«
»Fast nie. Sie hat Angst vor Läusen, Dysenterie und Typhus.«
»Und euer Blockführer?«
»Der kommt nur zum Appell. Kümmert sich sonst wenig um uns.«
»Wie heißt er?«
»Bolte. Scharführer.«
Lewinsky nickte.»Die Blockältesten schlafen hier nicht in den Baracken, wie? Nur die Stubenältesten. Wie ist eurer?«
»Du hast neulich mit ihm gesprochen. Berger. Wir könnten keinen besseren haben.«
»Ist das der Arzt, der jetzt im Krematorium arbeitet?«
»Ja. Du weißt gut Bescheid.«
»Wir haben uns danach erkundigt. Wer ist euer Blockältester?«
»Handke. Ein Grüner. Hat vor ein paar Tagen einen von uns totgetreten.«
»Scharf?«
»Nein. Gemein. Aber er weiß wenig von uns. Hat auch Angst, sich mit irgend etwas anzustecken.
Kennt nur ein paar von uns. Die Gesichter wechseln zu schnell. Der Blockführer weiß noch weniger. Die Kontrolle liegt bei den Stuben» ältesten. Man kann hier allerlei machen. Das wolltest du doch wissen, wie?«
»Ja, das wollte ich wissen. Du hast mich verstanden.«Lewinsky blickte überrascht auf das rote Dreieck auf dem Kittel von 509. Er hatte nicht so viel erwartet.
»Kommunist?«fragte er.
509 schüttelte den Kopf.
» Sozialdemokrat?«
»Nein.«
»Was denn? Irgendwas mußt du doch sein.«509 blickte auf. Die Haut um seine Augen war noch verfärbt von den Blutergüssen.
Die Augen wurden dadurch heller; sie glänzten fast durchsichtig im Licht des Feuers, als gehörten sie nicht zu dem dunklen, demolierten Gesicht.»Ein Stück Mensch – wenn dir das genügt.«
»Was?«
»Schon gut. Nichts.«
Lewinsky hatte einen Augenblick gestutzt.»Ach so, ein Idealist«, sagte er dann mit einer Spur gutmütiger Verachtung.»Na, meinetwegen, wie du willst. Wenn wir uns nur auf euch verlassen können.«
»Das könnt ihr. Auf unsere Gruppe. Die, die drüben sitzen. Sie sind am längsten hier.«509 verzog die Lippen.»Veteranen.«
»Und die anderen?«
»Die sind ebenso sicher. Muselmänner. Sicher wie Tote. Streiten nur noch um etwas Fraß und die Möglichkeit, im Liegen zu sterben. Keine Kraft mehr zum Verrat.«
Lewinsky sah 509 an.»Man könnte also jemand für einige Zeit bei euch verstecken, wie? Es würde nicht auffallen? Wenigstens nicht für ein paar Tage?«
»Nein. Wenn er nicht zu fett ist.«
Lewinsky überhörte die Ironie. Er rückte näher heran.»Irgendwas liegt bei uns in der Luft. In verschiedenen Baracken sind die roten Blockältesten durch grüne ersetzt worden. Es wird geredet über Nacht- und Nebeltransporte. Du weißt, was das ist -«
»Ja. Transporte zu den Vernichtungslagern.«
»Richtig. Es wird auch über Massenliquidationen gemunkelt. Leute, die aus anderen Lagern kommen, haben die Nachricht mitgebracht. Wir müssen vorsorgen. Unsere Verteidigung organisieren. Die SS zieht nicht einfach so ab. Bis jetzt haben wir an euch dabei nicht gedacht -«
»Ihr habt geglaubt, wir krepieren hier wie halbtote Fische, was?«
»Ja. Aber jetzt nicht mehr. Wir können euch brauchen. Wichtige Leute für eine Zeitlang verschwinden zu lassen, wenn es scharf drüben wird.«
»Ist das Lazarett nicht mehr sicher.«
Lewinsky blickte wieder auf.»So, das weißt du auch?«
»ja, das weiß ich noch.«
»Warst du drüben bei uns in der Bewegung?«
»Das ist egal«, sagte 509.»Wie ist es jetzt?«
»Das Lazarett«, erwiderte Lewinsky in einem anderen Ton als vorher,»ist nicht mehr so wie früher. Wir haben noch einige von unseren Leuten drin; aber es wird da seit einiger Zeit scharf aufgepaßt.«
»Wie ist es mit der Fleckfieber- und Typhus-Abteilung?«
»Die haben wir noch. Aber das ist nicht genug. Wir brauchen andere Gelegenheiten, um Leute zu verstecken. In unserer eigenen Baracke können wir es immer nur für ein paar Tage tun. Wir müssen auch immer mit überraschenden SS-Kontrollen nachts rechnen.«
»Ich verstehe«, sagte 509.»Ihr braucht einen Platz wie hier, wo alles rasch wechselt und wo wenig kontrolliert wird.«
»Genau. Und wo ein paar Leute die Kontrolle haben, auf die wir uns verlassen können.«
»Das habt ihr bei uns.«
Ich preise das Kleine Lager an wie einen Bäckerladen, dachte 509, und sagte:»Was war das mit Berger, wonach ihr euch erkundigt habt?«
»Das war sein Dienst im Krematorium. Wir haben dort niemand. Er könnt uns auf dem laufenden halten.«
»Das kann er. Er zieht im Krematorium Zähne aus und unterschreibt Totenscheine oder so etwas.
Er ist dort seit zwei Monaten. Der frühere Häftlingsarzt ist beim letzten Wechsel mit der Verbrennungsbrigade auf einen Nacht- und Nebeltransport abgeschoben worden. Dann war da für ein paar Tage ein Zahnklempner, der gestorben ist. Danach haben sie Berger geholt.«