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Sie bogen in die Straße ein, die zu ihrer Baracke führte. Der Wind, der von der Stadt heraufwehte, war stärker geworden und traf sie voll, als sie um die Ecke kamen. Er brachte den Rauch der brennenden Stadt mit sich herauf.

Die Gesichter der Gefangenen veränderten sich.»Riecht ihr es auch?«fragte Werner.

»Ja.«Münzer hob den Kopf.

Goldstein spürte den süßen Geschmack des Blutes auf seinen Lippen. Er spuckte aus und versuchte den Rauch mit offenem Munde zu schmecken.

»Es riecht, als brenne es auch hier schon -«

»Ja -«

Sie konnten den Rauch jetzt sogar sehen. Er wehte vom Tal die Straßen hinauf wie ein leichter, weißer Nebel und hing bald überall zwischen den Baracken. Es schien Werner einen Augenblick sonderbar und fast unbegreiflich, daß der Stacheldraht ihn nicht zurückhielt – als sei das Lager plötzlich nicht mehr so abgeschlossen und unzugänglich, wie es vorher gewesen war.

Sie gingen die Straße hinab. Sie gingen durch den Rauch. Ihre Schritte wurden fester, und ihre Schultern reckten sich. Sie trugen Scheller mit großer Vorsicht.

Goldstein beugte sich zu ihm nieder.»Riech es! So riech es doch auch!«sagte er leise, verzweifelt und flehend in das spitze Gesicht hinein.

Aber Scheller war längst bewußtlos.

Die Baracke war dunkel und stank. Licht gab es abends schon lange nicht mehr.

»509«, flüsterte Berger.»Lohmann will mit dir sprechen.«

»Ist es soweit?«

»Noch nicht.«509 tastete sich durch die schmalen Gänge zu dem Brettergestell, neben dem sich das matte Viereck des Fensters abhob.»Lohmann?«

Etwas raschelte.»Ist Berger auch da?«fragte Lohmann.

»Nein.«

»Hol ihn.«

»Wozu?«

»Hol ihn!«509 tastete sich zurück. Flüche folgten ihm. Er trat auf Körper, die in den Gängen lagen. Jemand biß ihm in die Wade. Er schlug auf den unbekannten Kopf, bis die Zähne sich lösten.

Nach einigen Minuten kam er mit Berger wieder.»Da sind wir. Was willst du nun?«

»Hier!«Lohmann streckte seinen Arm aus.

»Was?«fragte 509.

»Halte deine Hand unter meine. Flach. Vorsichtig.«509 fühlte die dünne Faust Lohmanns. Sie war trocken wie Eidechsenhaut. Langsam öffnete sie sich. Etwas fiel in die Hand von 509, klein und schwer.»Hast du es?«

»Ja. Was ist es? Ist es -«

»Ja«, flüsterte Lohmann.»Mein Zahn.«

»Was?«Berger schob sich näher.»Wer hat das getan?«

Lohmann begann zu kichern. Es war ein fast lautloses, gespenstisches Kichern.

»Ich.«

»Du? Wie?«

Sie fühlten die Befriedigung des Sterbenden. Er schien kindisch stolz und tief beruhigt.»Nagel.

Zwei Stunden. Kleiner Eisennagel. Habe ihn gefunden und den Zahn damit losgebohrt.«

»Wo ist der Nagel?«

Lohmann griff neben sich und gab ihn Berger. Berger hielt ihn gegen das Fenster und befühlte ihn dann.»Dreck und Rost. Hat es geblutet?«

Lohmann kicherte wieder.»Berger«, sagte er,»ich kann eine Blutvergiftung riskieren.«

»Warte.«Berger suchte in seiner Tasche.»Hat jemand ein Streichholz?«

Streichhölzer waren kostbar.»Ich habe keins«, erwiderte 509.

»Hier«, sagte jemand aus dem mittleren Bett.

Berger rieb die Zündfläche an. Das Streichholz flammte auf. Berger und 509 hatten die Augen geschlossen gehalten, um nicht geblendet zu werden. Sie gewannen so einige Sekunden zum Sehen.

»Mach den Mund auf«, sagte Berger.

Lohmann starrte ihn an.»Sei nicht lächerlich. Verkauft das Gold.«

»Mach den Mund auf.«

Über Lohmanns Gesicht huschte etwas, das als Lächeln gemeint sein konnte.»Laß mich in Ruhe.

Gut, euch beide noch einmal bei Licht gesehen zu haben.«

»Ich werde dir Jod darüber pinseln. Ich hole die Flasche.«

Berger gab 509 das Streichholz und tastete sich zu seinem Bett hinüber.»Licht aus!«krächzte jemand.

»Quatsch nicht!«antwortete der Mann, der das Streichholz gegeben hatte.

»Licht aus!«krächzte die andere Stimme wieder.»Sollen die Posten uns zusammenschießen?«

509 stand so, daß sein gebückter Körper sich zwischen der Wand und dem Streichholz befand.

Der Mann im mittleren Bett hielt seine Decke gegen das Fenster, und 509 deckte die kleine Flamme seitlich mit seiner Jacke ab. Lohmanns Augen waren sehr klar. Sie waren zu klar. 509 blickte auf das Stück Streichholz, das noch nicht verbrannt war, und dann auf Lohmann, und er dachte, daß er Lohmann sieben Jahre kannte, und er wußte, daß dieses das letztemal sein würde, daß er ihn lebend sah. Er hatte zu viele solche Gesichter gesehen, um das nicht zu wissen.

Er fühlte die Hitze der Flamme an seinen Fingern, aber er hielt sie, bis er nicht mehr konnte. Er hörte Berger zurückkommen. Dann war die Dunkelheit plötzlich da, als sei er blind geworden.

»Hast du noch ein Streichholz?«fragte er den Mann im mittleren Bett.

»Hier.«Der Mann gab ihm eins.»Das letzte.«

Das letzte, dachte 509. Fünfzehn Sekunden Licht. Fünfzehn Sekunden für die fünfundvierzig Jahre, die noch Lohmann hießen. Die letzten.

Der kleine flackernde Kreis.»Licht aus, verdammt! Haut ihm das Licht aus der Hand!«

»Idiot! Kein Aas kann was sehen!«509 hielt das Streichholz niedriger. Berger stand neben ihm, die Flasche mit Jod in der Hand.

»Mach den Mund – «

Er brach ab. Er sah Lohmann jetzt ebenfalls deutlich. Es war unsinnig gewesen, das Jod zu holen.

Er hatte es auch nur gemacht, um irgend etwas zu tun. Langsam steckte er die Flasche in die Tasche. Lohmann schaute ihn ruhig an, ohne mit den Augenlidern zu blinken. 509 blickte weg. Er öffnete die Hand und sah den kleinen Klumpen Gold darin schimmern. Dann sah er wieder auf Lohmann. Die Flamme sengte seine Finger. Ein Schatten von der Seite schlug nach seinem Arm.

Das Licht erlosch.

»Gute Nacht, Lohmann«, sagte 509.

»Ich komme nachher noch einmal«, sagte Berger.

»Laßt nur«, flüsterte Lohmann.»Dies jetzt – ist einfach -«

»Vielleicht finden wir noch ein paar Streichhölzer.«

Lohmann erwiderte nichts mehr.

509 fühlte die Goldkrone hart und schwer in seiner Hand.»Komm heraus«, flüsterte er Berger zu.

»Wir besprechen das besser draußen. Da sind wir allein.«

Sie tasteten sich zur Tür und gingen auf die Seite der Baracke, die vor dem Winde geschützt war.

Die Stadt war abgeblendet und zum großen Teil gelöscht.

Nur der Turm der Katharinenkirche brannte noch wie eine riesige Fackel. Er war sehr alt und voll trockenen Gebälks; die Schläuche der Feuerwehr konnten nichts gegen ihn ausrichten, und man mußte ihn ausbrennen lassen.

Sie hockten sich nieder.»Was sollen wir machen?«fragte 509.

Berger rieb seine entzündeten Augen.»Wenn die Krone auf der Schreibstube registriert ist, sind wir verloren. Sie werden nachforschen und ein paar von uns hängen. Mich als ersten.«

»Er sagt, sie sei nicht registriert. Als er kam, gab es das hier noch nicht. Er ist seit sieben Jahren im Lager. Goldzähne wurden damals ausgeschlagen, aber nicht registriert. Das kam später.«

»Weißt du das genau?«509 hob die Schultern.

Sie schwiegen eine Weile.»Wir können natürlich immer noch die Wahrheit sagen und die Krone abliefern. Oder sie in seinen Mund stecken, wenn er tot ist«, erklärte 509 schließlich. Seine Hand schloß sich eng um den kleinen Klumpen.»Willst du das?«

Berger schüttelte den Kopf. Das Gold war Leben für einige Tage. Beide wußten, daß sie es jetzt, da sie es hatten, nicht mehr abliefern würden.

»Könnte er den Zahn nicht schon vor Jahren ausgebrochen und selbst verkauft haben?«fragte 509.

Berger sah ihn an.»Glaubst du, daß die SS sich darauf einläßt?«

»Nein. Besonders nicht, wenn sie die frische Wunde im Munde entdeckt.«

»Das ist das wenigste. Wenn er noch etwas durchhält, heilt die Wunde. Es ist außerdem ein hinterer Backenzahn; das macht die Kontrolle schwieriger, wenn die Leiche erst starr ist. Wenn er heute abend stirbt, ist er morgen vormittag soweit. Wenn er morgen früh stirbt, müssen wir ihn hier behalten, bis er starr ist. Das geht. Handke können wir beim Morgenappell täuschen.«509 sah Berger an.»Wir müssen es riskieren. Wir brauchen das Geld. Jetzt besonders.«

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