»Manchmal sind andere Dinge wichtiger als das Leben«, entgegnete sein Stellvertreter unbefangen. »Und das ist so eine Gelegenheit. Und jetzt leg ich mich schlafen. Ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste.«
Es wurde Nacht, und die Nacht war voller Spannung.
Für die meisten Männer der Jacare war es zugleich die kürzeste und längste Nacht ihres Lebens. Zwar schliefen sie, weil sie wirklich erschöpft waren, doch in ihrem tiefsten Inneren wollte etwas wach bleiben, denn die Angst ist ein Gefühl, das niemals müde wird und in der größten Dunkelheit wie der Docht einer Kerze brennt.
Und Mombars war nahe.
Der Todesengel lauerte auf sie.
Zweihundert Wilde, direkte Nachfahren der gefürchteten karibischen Kannibalen, die einst die gesamte Karibik in Angst und Schrecken versetzten, wetzten ihre Messer, um ihnen die Eingeweide herauszureißen.
Wer konnte mit so einem Damoklesschwert über dem Kopf schlafen?
Zwei Stunden vor Sonnenaufgang waren alle Männer bereits wieder auf den Beinen, und nach einem kargen und schweigsamen Frühstück nahm jeder seinen Gefechtsposten ein.
Die Morgenröte ließ auf sich warten, und als sie schließlich kam, waren ihre Hände leer.
Keine Menschenseele war am Horizont zu sehen.
Drei Männer standen Wache auf den Dünen, die übrigen kehrten an Bord zurück, teils erleichtert, teils aber auch frustriert, daß die nervenaufreibende Warterei weiterging.
Da Sebastian wußte, daß Untätigkeit zum schlimmsten Feind seiner Besatzung werden konnte, befahl er ein Floß mit quadratischem Segel zu bauen, das er in der Mitte der Buchteinfahrt postieren ließ.
Dann gab er den Kanonieren den Befehl, auf die Mitte dieses Segels zu zielen, und ließ sie feuern, bis sie es genau trafen. Auf diesen exakten Punkt ließ er die Kanonen fixieren.
Schließlich richteten sie sich auf eine weitere Nacht der Angst ein.
Und auf einen weiteren Morgen ohne Feinde.
Und so vergingen fünf Nächte.
Doch am Morgen des sechsten Tags durchbrach eine Stimme die Stille der ruhigen Bucht:
»Schiff in Sicht!«
Bei Gott! Da war sie!
Sie stiegen auf die Düne und sahen zu, wie das stolze, mächtige Schiff gemächlich zwischen Inseln, Untiefen und Riffen dahinglitt. Es war schon schwer zu glauben, daß ein trauriger Küstensegler mit kaum dreißig Kanonen es wagte, sich mit einer der eindrucksvollsten Kriegsmaschinen anzulegen, die in jenen Zeiten durch die Karibik segelten.
»Ist er das?«
Sebastian reichte Lucas Castano, der gefragt hatte, das schwere Fernrohr.
»Wer sonst?«
Der Zweite an Bord schaute lange hindurch, bis er schließlich die riesige Flagge mit dem unverzierten Totenkopf einwandfrei ausmachen konnte, und nickte überzeugt:
»Das Wappen von Mombars, kein Zweifel.«
»Jeder auf seinen Posten.«
Jeder Mann nahm schweigend und ohne Hast seinen ihm vorher zugewiesenen Posten ein. Nur der junge Kapitän und sein Adjutant blieben zwischen den Dünen und ließen das Schiff nicht aus den Augen, das jetzt direkt auf die Insel zusteuerte.
Im Sand ausgestreckt und ein Auge am riesigen Fernglas, konzentrierte sich Sebastián auf den riesigen Mann mit der weißen Mähne, der seinerseits die Insel von seinem Befehlsposten aus musterte, und murmelte:
»Schön. Jetzt gibt es kein Entkommen mehr. Er oder wir!«
Keiner hätte genau sagen können, wieviel Zeit verging, bis der Bug der Ira de Dios eine gute halbe Meile vor der Buchteinfahrt verharrte.
Einigen erschien es wie eine Ewigkeit.
Anderen nur wie wenige Minuten.
Das eindrucksvolle Schlachtschiff hatte alle Segel mit Ausnahme der Focksegel gerefft und glitt daher sehr langsam voran, während es die Kanonenschächte öffnete. Drei Kanonenreihen zeigten ihre Mündungsrohre, die bereit waren, bei dem geringsten Anlaß Eisen und Feuer regnen zu lassen.
Der Todesengel stand neben dem Steuermann und betrachtete ein letztes Mal den eleganten Küstensegler, der am Ende der Bucht vor Anker lag, und obwohl ihm die Jacare ihre Steuerbordseite zuwandte, an der die Klappen ihrer Kanonen klar auszumachen waren, schien Mombars zum Schluß zu kommen, daß er wenig zu fürchten hatte, wenn er frontal auf das bewegungslose Schiff zusteuerte.
Mit seinem Fernglas suchte er die flachen Sandbänke auf beiden Seiten des Kanals ab. Erst als er keine Kanone zwischen den kleinen Dünen und den einzelnen Palmen entdecken konnte, befahl er vorzurücken.
Schließlich schaute er auf den Mann, der sich auf die höchste Erhebung der Insel gestellt hatte und wiederholt ein rotes Tuch schwenkte.
Das war das Zeichen, das bestätigte, daß der spanische Navigator und Renegat Seekarten und Routenbücher in Sicherheit gebracht hatte.
Er blickte zu den Wachen im Mastkorb hinauf, die ihm mit einer Geste bestätigten, daß auch von dort oben keinerlei Gefahr zu erkennen war.
Mit einer Handbewegung befahl er, die Focksegel weiter zu verkleinern, und das Schiff setzte seine langsame Fahrt fort.
Kurze Zeit darauf gab die Jacare einen zaghaften Warnschuß ab, der an die hundert Meter vor dem Bug der Ira de Dios ins Wasser klatschte, doch diese hielt eine Erwiderung nicht für nötig. Zum einen war die Drohung sehr verhalten, zum anderen hätte man im Augenblick nur mit der kleinen Bugkanone auf den Angreifer feuern können.
Mit stummer Geste ließ Mombars die schwarze Flagge einholen: ein unmißverständlicher Hinweis auf seine friedliche Absicht. Er wollte kein ungleiches und absurdes Kanonenduell beginnen, sondern längsseits der Jacare gehen und ihr seine Feuerkraft demonstrieren. So gedachte er die Herausgabe ihrer Seekarten und Routenbücher zu erzwingen. Im Gegenzug würde er das Schiff verschonen.
Mombars sah keinen Grund, das Schiff eines Kollegen zu versenken, denn sein wahres Interesse war es nach wie vor, den Spaniern die Gurgel durchzuschneiden. Noch in seinem hohen Alter war er nach wie vor davon überzeugt, daß dies der Grund sei, warum ihn sein Schöpfer auf die Welt geschickt hatte.
Seine gefürchtete Flagge einzuholen und feindliches Feuer nicht zu erwidern schien seiner Ansicht nach Beweis genug für seinen guten Willen zu sein. So beschränkte er sich darauf, weiter durch die Einfahrt vorzudringen, und konzentrierte sich mehr auf das, was sich die Männer an den Bleiloten zuriefen, als auf einen neuen Angriff seitens der Jacare.
»Zwölf Faden und Sand!«
»Zwölf Faden und Sand!«
»Elf Faden und Sand!«
»Elf Faden und Sand!«
Nur das war im Augenblick wirklich wichtig, denn solange seine Kanonen geladen und seine Männer auf ihren Posten waren, mußte er sich nur Sorgen machen, ob er auch genügend Wasser unter dem Kiel hatte.
An Land verfolgten Sebastián und sein Adjutant den langsamen Vorstoß des Schiffs, das ihnen nunmehr wie eine riesige Todesmaschine vorkam, in deren Takelwerk über zweihundert Wilde hingen, die bereit waren, sie zu entern. Und als sie die zerbrechliche Silhouette der entblößten Jacare betrachteten, tauschten sie einen sorgenvollen Blick aus.
»Wenn es ihm gelingt, seine Kanonen in Stellung zu bringen, schießt er sie mit einer einzigen Breitseite in Stücke.«
Schon fuhr die Ira de Dios durch die Einfahrt der Bucht und machte sich bereit, allmählich nach Steuerbord zu drehen. Langsam passierte ihr Bug den Punkt, an dem die Mannschaft der Jacare vorher das Floß für ihre Schießübungen hatten ankern lassen.
Ein Meter, zwei Meter, drei Meter.
Sebastian Heredia richtete eine schwere Pistole in die Höhe und feuerte einen Schuß in die Luft ab.
Sofort antworteten ihm drei Kanonenschüsse von der Jacare. Das war das Signal für die 22 Kanonen, die sich unter der Sandbank an der Leeseite der Ira de Dios verbargen. Alle feuerten zur gleichen Zeit auf einen Zielpunkt von nur zwei Metern Durchmesser an der Backbordseite des Bugs, unmittelbar über der Wasserlinie.
Das riesige Schiff erzitterte vom Bug- bis zum Achtersteven und kam sofort zum Stehen.