Nur mittels der eindrucksvollen und makabren Skizzen, die man Jahre später anfertigte, konnten sich die Historiker eine ungefähre Vorstellung davon machen, was in Port-Royal an jenem heißen Mittag im Juli 1692 geschehen war, doch unglücklicherweise ging der größte Teil dieser Zeugnisse während eines heftigen Wirbelsturms Ende des letzten Jahrhunderts verloren.
Dennoch weigerte sich Celeste Heredia Matamoros, die vor dem Grab so vieler Menschen kniete, die Tatsache zu akzeptieren, daß ihr eigener Bruder ebenfalls ein Opfer der entfesselten Naturgewalten geworden war. Zwei Tage und zwei Nächte lang suchten sie und ihr Vater nach ihm, bis sie schließlich nur noch in den Sand des Strands sinken und sich der bitteren und unabänderlichen Realität geschlagen geben konnten.
Im westlichsten Winkel der Bucht konnte man die unverwechselbaren Masten der Jacare ausmachen, die in etwa vier Meter Tiefe lag, obwohl man sich fragen mußte, wie es möglich war, daß sich nicht ein einziges Besatzungsmitglied, so unerwartet und brutal der Schiffbruch auch hatte sein mögen, retten und mühsam an die Küste hatte schwimmen können.
Die meisten Überlebenden waren Besatzungsmitglieder der in der Bucht ankernden Schiffe, daher war es verwunderlich, daß keiner der hervorragenden Schwimmer an Bord der Jacare die Kraft oder das Glück gehabt hatte, sicher das Festland zu erreichen, so tief sie auch geschlafen haben mochten.
Natürlich wußten weder Celeste noch Miguel Heredia in diesem Augenblick, welche Tragödie die Menschen, mit denen sie so lange gesegelt waren, erlitten hatten, daß keiner von ihnen mehr am Leben war und ihre verstümmelten Körper im größten Frachtraum des schnellen Küstenseglers ruhten.
Als sie schließlich wieder genügend Mut gefaßt hatten, um zu akzeptieren, daß sie unwiderruflich allein waren und ihnen nichts weiter übrigblieb, als sich eine neue Zukunft aufzubauen, die nicht um die Person Sebastians kreiste, betrachtete Miguel Heredia lange seine Tochter und fragte fast tonlos:
»Was sollen wir jetzt machen?«
Das muntere Mädchen, das jeder Schicksalsschlag nur stärker zu machen schien, deutete lediglich mit dem Kopf auf den Ort, an dem die Jacare ruhte.
»Zunächst einmal bergen wir die Silberbarren, die laut Sebastian noch da unten sein müssen.«
»Warum das denn? Er hat uns mehr Geld hinterlassen, als wir in hundert Jahren ausgeben können.«
»Ein gutes Schiff und eine gute Besatzung sind teuer«, lautete die trockene Antwort. »Sehr sehr teuer.«
»Schiff? Wozu zum Teufel brauchen wir ein Schiff?«
»Um das zu tun, was ich schon immer tun wollte.«
»Und das wäre?«
»Gegen die Casa de Contratación und gegen die Sklavenhändler zu kämpfen.«
Ihr Vater blickte sie entgeistert an, und als ob er nicht sicher sei, richtig verstanden zu haben, was sie gesagt hatte, wiederholte er:
»Gegen die Casa de Contratación und die Sklavenhändler kämpfen? Was redest du denn da für einen Unfug? Bist du verrückt geworden?«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete das verblüffende Mädchen. »Verrückt würde ich werden, wenn ich wüßte, daß ich den Rest meines Lebens damit verbringen müßte, darauf zu warten, daß mich irgendein Glücksritter zum Altar führt.« Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Dafür wurde ich nicht geboren. Ich wurde geboren, um etwas für die Schwächsten zu tun, und wenn mir das Schicksal die Mittel dafür gegeben hat, werde ich das auch versuchen. Das ist das Mindeste, was ich Sebastian schuldig bin. Er hat ein sehr bitteres Leben gehabt, und er ist allzu jung gestorben. Schuld daran sind Leute, die glauben, ungestraft andere mißbrauchen zu können.« Sie blickte ihrem Vater fest in die Augen und fragte schließlich: »Wirst du mir helfen?«
Miguel Heredia dachte einen langen Augenblick nach, bevor er mit den Schultern zuckte.
»Ich halte es immer noch für eine Schnapsidee«, murmelte er. »Aber wenn du es zum Gedenken an Sebastian tun willst, was bleibt mir da anderes übrig?«