Die lange und unbarmherzige Hetzjagd führte dazu, daß die Bukaniere mit der Zeit Festungen auf der kleinen wilden Insel La Tortuga errichteten, die nur wenige Meilen nördlich von Hispaniola lag. Von dort führten sie blitzschnelle Überfälle auf die Zuckerrohrfelder Hispaniolas durch, um sich danach wieder auf Tortuga zurückzuziehen. Bald versorgten sich die Schiffe dort mit Proviant.
Im Lauf der Jahre stieg die befestigte Bucht von Tortuga zum reichsten, geschäftigsten und lebenslustigsten Hafen der Karibik auf, während zur gleichen Zeit das einst pulsierende Santo Domingo im Dämmerschlaf versank. Die Leiter der Casa kümmerte das allerdings herzlich wenig. Schließlich war die Neue Welt so riesig und ihre Schätze so unerschöpflich, daß es wenig ausmachte, wenn danach ganze Landstriche und Städte wie verwüstet dalagen.
Nun schien die Reihe an Margarita gekommen. Dort war die Perlenproduktion dramatisch zurückgegangen. Schuld daran waren nicht etwa plötzlich faul gewordene Austern, sondern die logische Tatsache, daß ein apathischer afrikanischer Sklave, der umsonst arbeitete, weder das gleiche Risiko einging noch den gleichen Ertrag einbrachte wie ein Taucher, der zwischen den Riffen geboren und aufgewachsen war und mit einem guten Tagelohn seine Familie ernähren wollte.
Die Casa de Contratación von Sevilla hatte nie begriffen, daß ein guter Tagelohn oft eine vorzügliche Investition sein konnte. Einem Tagelöhner konnte man nämlich nicht drei Viertel seines Gewinns rauben, ohne daß dieser protestiert hätte. So hatten sich in den Gassen von La Asuncion die gleiche Mutlosigkeit und Lethargie wie auf der übrigen Insel breitgemacht.
Wohl aus diesem Grund wurden Sebastian Heredia und Justo Figueroa, als sie an einem heißen Nachmittag La Asuncion erreichten, dort nur von fünf räudigen Hunden und einer Herde Schweine begrüßt.
Ansonsten herrschte Totenstille. Keine Seele wagte sich in diesen brütendheißen Stunden auch nur unter die schattigen Arkaden der alten Steinhäuser, und lange Zeit entdeckten sie lediglich einen Bettler, der im Schatten des mächtigen Franziskanerklosters schlief.
»Wie ein Friedhof…«, lispelte die traurige Gestalt von Justo Figueroa, der nur noch zwei Zähne hatte. »Ist’s hier immer so tot gewesen?«
Jacare Jack schüttelte den Kopf. Nur ein einziges Mal hatte er mit seinen Eltern die Stadt besucht, und damals war sie ihm wie der lebendigste Ort des Universums vorgekommen.
Der Verfall schien das Verwaltungszentrum der Insel ebenso erfaßt zu haben wie die Küstendörfer, und der Margariteno konnte sich nur wundern, wie fatal sich die falsche Politik einer Handvoll Personen auf das Wohl der Mehrheit auswirken konnte.
»Die sind verrückt«, murmelte er, während ihn eine stille Wut erfaßte. »Völlig verrückt!«
Sie ließen sich im Schatten eines riesigen Kapokbaumes nieder, der den ganzen kleinen Platz beherrschte, und warteten darauf, daß die Stadt am Abend aus ihrer traurigen Lethargie erwachen würde, doch nur zwei Dutzend Personen wagten es, ihre Häuser zu verlassen, obwohl eine frische, nach Blumen duftende Brise aus den Bergen wehte.
Schließlich ging Sebastián Heredia auf eine Gruppe alter Frauen zu, die ihre Stühle nach draußen gestellt hatten und gemeinsam an einer riesigen Decke stickten.
»Mit Verlaub…« fragte er so höflich, wie er konnte. »Könnt Ihr mir sagen, wo sich der Palast von Don Hernando Pedrárias befindet?«
Sie musterten ihn sehr unfreundlich, bis Sebastián geistesgegenwärtig hinzufügte:
»Ich habe ihm eine Beschwerde zu übergeben.«
Die feindselige Haltung war plötzlich wie weggeblasen.
»In diesem Fall mußt du dich in der Reihe anstellen, mein Sohn«, bedeutete ihm die älteste. »Sein Palast liegt zwei Straßen weiter unten, neben dem Rathaus. Doch er verläßt kaum das Haus seiner Hure Matamoros. Der Blitz soll sie treffen!«
»Und wo wohnt die Matamoros?«
»In einem Steinhaus am Ausgang des Tals, auf dem Weg nach Tacarigua. Du kannst es nicht verfehlen. Es liegt mitten im Wald und stinkt nach Schwefel.«
Er dankte ihnen freundlich und kehrte zu seinem krummbeinigen Begleiter zurück.
»Such dir ein Haus zum Schlafen, oder besser, spiel den Bettler, damit keiner auf dich aufmerksam wird. Und versuch herauszufinden, wie viele Soldaten das Lagerhaus der Casa neben dem Rathaus bewachen. Aber nimm dich sehr in acht!«
»Keine Sorge…« beruhigte ihn Justo Figueroa. »So wie ich ausschaue, wird mich keiner für einen Piraten halten, auch wenn ich mit einem Totenkopf tätowiert bin. Ich werde auf der Straße schlafen und ein Maisbrot essen.«
»Um so besser! Wir treffen uns morgen, hier und zur gleichen Stunde.«
Er verschwand in der engen Stampflehmgasse, die nach Tacarigua führte, und eine gute Meile nach den letzten Häusern erblickte er einen dichten Wald, über dessen Wipfeln die Kuppel eines offenbar luxuriösen Herrenhauses ragte.
Alles war friedlich und ruhig. Keine Menschenseele weit und breit, nicht einmal das ferne Bellen eines traurigen Straßenköters störte die Abendstille Margaritas. Mit fünfhundert Mann, schoß es Sebastian einen Augenblick lang durch den Kopf, konnte man die Paläste und Häuser dieser halbverlassenen Stadt plündern bis zur letzten Perle und zum letzten Maravedi. Schnell verwarf er diese Möglichkeit jedoch wieder, denn in der Stunde der Wahrheit konnte eine böse Überraschung auf ihn warten.
Niemand konnte mit Bestimmtheit wissen, wie viele bewaffnete Männer plötzlich durch die riesigen Portale ins Freie stürmen, wie viele Soldaten beim leisesten Anzeichen von Gefahr aus Santa Ana, Juan Griego, Tacarigua oder Porlamar zur Hilfe eilen würden.
Wer immer La Asuncion am unzugänglichsten Punkt der Insel gegründet hatte, mußte sich darüber im klaren gewesen sein, daß Feinde stets vom Meer kommen würden. Und wer die Stadt überfallen wollte, mußte wissen, daß er unweigerlich in eine Falle lief, denn an der Biegung jedes Weges, der zur Küste zurückführte, konnte der Feind im Gebüsch lauern.
Seit Sebastian Heredia mit seinem Vater auf Perlensuche gegangen war, wußte er nur zu gut, daß an jedem strategischen Punkt der Küste stets ein riesiger Haufen Holz aufgeschichtet war, den die Wachen beim geringsten Anzeichen von Gefahr anzündeten. Piraten und Korsaren waren immer die schlimmsten Feinde der Insel gewesen.
Die Casa de Contratación von Sevilla natürlich ausgenommen.
Vielleicht weil sich die Casa sicher glaubte und sie wußte, daß ihr Name allein ausreichte, um einem Einheimischen die verrückte Idee auszutreiben, ihre Schatzkammern anzugreifen, gab es in der Hauptstadt keine große Garnison. Die Casa zog es vor, die Festungen an der Küste so weit wie möglich zu verstärken.
Dabei waren sich sowohl die Casa als auch die spanischen Autoritäten in Westindien darüber im klaren, daß ihre Möglichkeiten, sich gegen die Überfälle von Fremden zu wehren, äußerst begrenzt waren. Die Neue Welt war viel zu riesig und zu vielfältig, als daß eine so kleine Nation sie gleichzeitig hätte erforschen, erobern und bewahren können.
»Wer viel rafft, verliert auch viel«, hieß es im Volksmund, doch die spanischen Autoritäten der damaligen Zeit schienen davon noch nichts gehört zu haben. Immer weiter drangen sie vor, um neue Länder zu unterwerfen und neue Reichtümer zu erschließen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß die Antillen, der neuralgische Punkt, von dem alle Siege abhingen, inzwischen zur Achillesferse des spanischen Weltreichs geworden waren.
Zu Lande- und zu Wasser suchten sich Piraten, Korsaren, Bukaniere und Freibeuter zwischen Kuba und Portobelo, zwischen Campeche und Cumanä in aller Ruhe ihre Beute aus, ohne daß sich ihnen je eine spanische Flotte, die diesen Namen verdient hätte, in den Weg gestellt hätte.
Die Flotte, die große Flotte, die allmächtige Flotte, verließ einmal im Jahr Sevilla. Ihr Auftrag lautete nicht, in der Karibik feindliche Schiffe zu bekämpfen, sondern lediglich, die unermeßlichen Reichtümer, die in diesem Jahr in den Kolonien angehäuft worden waren, sicher nach Spanien zu bringen und sie nicht in räuberische Hände fallen zu lassen. Die Sicherheit der Bewohner der Neuen Welt scherte sie keinen Deut. Es zählte nur die Sicherheit der Schätze, für die sich die Bewohner dieser Neuen Welt abgerackert hatten.