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In zwei Jahrhunderten hatte Spanien in der strategisch so wichtigen Karibik niemals eine auch nur annähernd so mächtige Flotte wie jene stationiert, die jedes fahr die Schätze nach Sevilla begleitete. Das hatte sicher damit zu tun, daß die Funktionäre der Casa für ein versenktes Piratenschiff weder eine Provision erhielten noch drei Viertel des Werts einsacken konnten, sehr wohl aber für jede Perle, jeden Edelstein und jede Unze Gold, die den Zoll in Sevilla passierte.

Bürokratische Inkompetenz sollte in der Geschichte Spaniens stets menschliche Großtaten in den Schatten stellen, doch niemals machte die Korruption der Beamten in so schändlicher Weise die Träume und den Ruhm der Helden des Landes zunichte wie in diesen zwei unseligen Jahrhunderten.

Was brillante Männer geschaffen hatten, wurde von blassen Männlein ruiniert, und die Insel Margarita machte da beileibe keine Ausnahme von dieser bitteren Regel.

Während Sebastián im stillen das Unglück beklagte, in einem gleichzeitig elenden und ruhmreichen Land geboren zu sein, nahm er auf einem Stein Platz, als wollte er sich nach einem langen und ermüdenden Weg ausruhen, und musterte seine Umgebung, um herauszufinden, wie man nach einem Angriff auf die Stadt wieder die ferne Küste erreichen konnte.

Die Nacht brach herein, als er zu dem Schluß gelangte, daß man verrückt sein mußte, La Asunción plündern zu wollen. Nachdem er ohne Appetit etwas Käse und Zwieback mit einem Schluck Wein zu sich genommen hatte, suchte er den Schutz des Waldes, um sich schlafen zu legen. Er brauchte Ruhe und wollte an nichts mehr denken.

Noch bevor sich vor der Küste von Pampatar, dem östlichsten Punkt der Insel, das erste Morgenrot abzeichnete, schlüpfte Sebastión bereits lautlos aus dem Dickicht des Waldes und kletterte auf eine dichtbelaubte Eiche, die über die hohe Umgebungsmauer der riesigen Hazienda hinausragte, holte sein Fernglas aus der Tasche und richtete es auf den Eingang des verrammelt wirkenden Hauses.

Auf einem kleinen Turm entdeckte er einen schläfrigen Wachposten, und kurz darauf trat ein Dickwanst, der aussah wie ein Koch, aus einer Seitentür, um sich auf einem Blumenbeet zu erleichtern.

Kaum hatte er einige Minuten spioniert, als direkt unter ihm eine rauhe Stimme erschallte:

»Komm runter da!«

Der Junge betrachtete die Person von oben, und sofort überfiel ihn ein seltsames Gefühl. Das war nicht mehr der schweigsame, abwesende Mann, um den er sich so viele Jahre gekümmert hatte, denn seine Augen leuchteten ganz anders und seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.

Sebastian sprang zu Boden, sie umarmten sich, und dann sah er sich den Mann genauer an. Kein Zweifel, das war der Mann, mit dem er in Juan Griego auf Perlensuche gegangen war, und nicht die traurige Gestalt, die auf der Jacare Macheten geschliffen hatte.

»Was ist nur mit dir passiert?« wollte er wissen. »Du scheinst ein anderer Mensch zu sein!«

»Das bin ich auch!«lautete die fröhliche Antwort von Miguel Heredia Ximénez. »Vor allem jetzt, wo du hier bist.« Er kniff ihn voller Freude in die Wangen. »Allerdings hast du länger auf dich warten lassen, als ich dachte.«

»Warum wartet nur überall alle Welt auf mich«, beschwerte sich Sebastián. »Ist das, was ich tue, so leicht zu durchschauen?«

»Nein«, beruhigte ihn sein Vater und umarmte ihn. »Doch als ich erfahren hatte, daß dein Schiff in Porlamar vor Anker gegangen ist, war ich sicher, daß du kommen würdest. Ich erwarte dich schon seit Wochen.«

»Was ist in dieser Zeit geschehen, das dich so verändert hat?«

Sein Vater nahm ihn am Unterarm und ging mit ihm einen kleinen Weg an der hohen Mauer entlang.

»Bald wirst du es wissen!« versprach er. »Doch jetzt erzähl mir von dir. Bist du immer noch Piratenkapitän?«

»Vor zwei Tagen war ich es jedenfalls noch«, lautete die humorvolle Antwort. »Aber in diesem Geschäft ist bekanntlich alles möglich.«

»Schade!« bedauerte der Vater. »Ich habe stets gehofft, daß du es doch rechtzeitig aufgeben würdest. Tritt ein! Wir sind da.«

Sie waren an einer winzigen Hütte am Waldrand angekommen, auf halber Höhe des Hügels, der das fruchtbare Tal beherrschte.

Der Margariteno warf einen langen Blick auf den armseligen, übelriechenden Verschlag, um bestürzt zu fragen:

»Hier also wohnst du?«

»Nur vorläufig. Bald werden wir aufbrechen.« Sein Vater lächelte leicht ironisch und blinzelte ihm zu. »Mit deinem Schiff, wenn sie es dir noch nicht abgenommen haben.«

Er war tatsächlich ein völlig anderer Mensch. Sogar jünger wirkte er, als hätte ihm der Aufenthalt auf der Insel die besten Jahre seines Lebens zurückgebracht.

Sebastian machte eine Geste in Richtung Herrenhaus und fragte:

»Was hast du herausgefunden?«

»Ich habe dir schon gesagt, daß du es bald wissen wirst.«

»Und warum nicht jetzt?« quengelte Jacare Jack. »Warum so geheimnisvoll?«

»Ich mag einfach jetzt noch nicht davon sprechen«, lautete die ausweichende Antwort. »Hast du Hunger?«

Er hatte einen alten Kasten geöffnet, in dem Käse und Wurst verstaut waren, und da sein Vater entschlossen schien, keine Erklärungen zu geben, begnügte sich sein immer verdutzterer Sohn damit, schweigend zu essen, bis es an der klapprigen Tür klopfte und ein Mädchen mit riesigen blauen Augen eintrat.

Sebastians Herz machte einen Hüpfer.

»Gütiger Gott…!« rief er mit zitternder Stimme. »Bist du…?«

Das Mädchen ließ ihm keine Zeit, die Worte zu beenden, sondern fiel ihm um den Hals und küßte ihm das ganze Gesicht ab, während der Vater lächelnd dabei zusah.

»Verstehst du jetzt? Das ist meine große Überraschung.«

Nach neuen Küssen, Umarmungen und langen Blicken, mit denen sich die Geschwister davon zu überzeugen schienen, daß sie sich tatsächlich nach so vielen fahren wiedergefunden hatten, entschloß sich Celeste dazu, ihrem Bruder haarklein und nicht ohne Humor zu erzählen, wie sie ihr Vater an einem Nachmittag während eines Ausritts in der Nähe des Hauses angesprochen und sie beschlossen habe, ihn in der armseligen Hütte zu verstecken, bis Sebastián auftauchen würde.

»Und wenn ich nicht gekommen wäre?« wollte Sebastián wissen.

»Wir waren sicher, daß du kommen würdest!« lautete die bestimmte Antwort des Mädchens. »Wir wußten es ebenso, wie ich niemals die Hoffnung aufgeben wollte, auch wenn ich sehr bittere Augenblicke erlebt habe.« Sie nahm das Gesicht ihres Bruders in die Hände und gab ihm einen dicken Kuß. »Wie hübsch du bist, gütiger Himmel! Du bist immer noch der hübscheste Bruder auf der ganzen Welt.«

»Und keine Schwester küßt so oft wie du.«

»Hab ja auch seit ewiger Zeit keinen mehr geküßt!« Celeste machte eine bittere Pause. »Und keiner hat mich geküßt…«

»Wie ist es dir all die Jahre ergangen?«

Das Mädchen, dessen überschäumende Lebensfreude scheinbar durch nichts zu erschüttern war, zuckte mit den Schultern, als wolle sie ihren vielen leidvollen Tagen keine Bedeutung zumessen.

»Was soll ich dir schon sagen? Am Anfang hab ich geheult wie ein Schoßhund, dann kam ich drauf, daß mir die Tränen nicht weiterhelfen würden, und beschloß, stark zu sein. Später gaben sie mir einen Hauslehrer, einen alten, sehr sympathischen Pfarrer, der mir über die schlimmsten Augenblicke hinweggeholfen hat. Als mir Hauptmann Mendana dann erzählte, daß du mit den Leuten auf der Insel Geschäfte machst, hab ich gehofft, daß du bald kommen würdest.« Sie kniff ihn fest in die Nase. »Aber dann sind Jahre vergangen!«

»Ich konnte doch nicht«, gab ihr Bruder zurück. »Wir waren auf einem Piratenschiff gefangen.«

»Ich weiß. Papa hat mir alles erzählt. Es gefällt mir nicht, daß du ihr Kapitän geworden bist. Doch da ich dich dadurch wiedergefunden habe, sei Gott dafür gedankt…Wann brechen wir auf?«

»Willst du wirklich alles aufgeben und mit uns kommen?« fragte der Margariteno erstaunt.

»Immer schon! Und lieber heute als morgen, denn Don Hernando hat sich in den Kopf gesetzt, mich zu verführen. Jeden Tag fällt es mir schwerer, ihn mir vom Leib zu halten.«

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