Sofort strömten fast alle Einwohner am Strand zusammen.
Über Stunden hinweg verharrte die Roses an Ort und Stelle, damit auch die Bewohner der benachbarten Dörfer herbeieilen konnten, um sie zu sehen. Die Kanonen der Jacare – die in sicherer Entfernung beigedreht hatte – sorgten in der Zwischenzeit dafür, daß niemand das riesige Segel bergen konnte. Kurz vor Sonnenuntergang feuerten die gleichen Kanonen auf das Schiff, und wenige Augenblicke später brannte der düstere Sarg wie Zunder.
Seine vier Mann Besatzung stürzten sich rechtzeitig ins Wasser und schwammen langsam zur Küste, wo sie unverzüglich von einer Abteilung Soldaten abgeführt wurden. Als der stinkende Pott schließlich vollständig untergegangen war, lichtete die Jacare die Anker und ging auf Kurs Nordost.
In der folgenden Nacht näherte sich eine Schaluppe in aller Stille der Festung La Galera. Mit drei seiner besten, bis an die Zähne bewaffneten Männer sprang Sebastián Heredia an Land, stieg still und leise die breite Steintreppe empor und klopfte diskret an die Pforte von Hauptmann Sancho Mendana.
Der Offizier schien nicht überrascht zu sein, ihn zu sehen.
»Hab dich schon erwartet«, murmelte er lächelnd. »Ich habe mir gedacht, daß du vorbeikommen wirst nach all dem Zirkus, den dein Schiff in Porlamar veranstaltet hat.«
»Hat sich ja schnell herumgesprochen.«
»Auf der ganzen Insel redet man von nichts anderem mehr.«
»Pedrárias, der Sklavenhändler.«
»Wenn das stimmt, ist er seinen Posten los.«
»Es stimmt…«, befand der Margariteno, um unvermittelt das Thema zu wechseln und gespannt zu fragen: »Habt Ihr meinen Vater gesehen?«
Hauptmann Mendana nickte.
»Eines schönen Tages stand er vor eurem alten Haus und wollte die jetzigen Bewohner hinauswerfen. Ich habe es geschafft, daß sie ihn nicht angezeigt haben, und ihn mit einem Freund nach Boca del Rio geschickt, doch seit zwei Wochen ist er verschwunden.«
»Glaubt Ihr, daß er meine Mutter sucht?«
»Gut möglich.«
»Weiß Pedrárias, daß er wieder auf der Insel ist?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, aber dieser gottverdammte Hurensohn hat seine Augen und Ohren überall. Früher oder später erfährt er es doch.«
»Ich muß meinen Vater vor Pedrárias finden.«
Der Offizier machte es sich in einem zerschlissenen Lehnstuhl bequem, zündete sich bemerkenswert bedächtig seine riesige Pfeife an, und als der Tabak richtig brannte, erwiderte er.
»Ich werde mein Bestes tun, um dir zu helfen, doch versprechen kann ich nichts. Pedrárias haßt mich und wird jeden Vorwand nutzen, mich abzusetzen.« Er schnalzte mit der Zunge und verzog angewidert seinen Mund. »Und die Zeiten sind schlecht für Leute ohne Einkommen.«
»Das waren sie immer.«
»Heute ist es schlimmer. Die Casa setzt Sklaven ein, um nach Perlen zu tauchen, und obwohl die meisten dabei krepieren oder ersaufen, sind es so viele, daß die traditionellen Taucher keine Arbeit mehr haben. Ganze Familien mußten auswandern, um nicht zu verhungern.«
»Und keiner tut was?«
»Was sollten sie schon tun? Pedrárias ist hier wie ein Vizekönig, und wenn man ihm nicht sicher nachweisen kann, daß er wirklich ein Sklavenhändler ist, wird keiner ihm die Macht entreißen.«
»Es war sein Schiff, das ich versenkt habe.«
Hauptmann Mendana musterte ihn, ohne seine Verblüffung zu verbergen.
»Du willst das gewesen sein? Nach allem, was erzählt wird, hat Kapitän Jacare Jack den Pott versenkt. Wenigstens war es sein Schiff.«
Die Antwort des Jungen klang ungewöhnlich ernst:
»Um Euch zu belügen verdanke ich Euch zu viel, und ich bin sicher, Ihr werdet es niemandem weitererzählen, was ich Euch jetzt sage.« Sebastián machte eine kurze Pause, bevor er leise hinzufügte: »Inzwischen bin ich Kapitän Jacare Jack, und das Schiff gehört mir.«
Der Offizier brauchte eine Weile, bevor er einen leisen erstaunten Pfiff ausstieß, musterte sein Gegenüber von Kopf bis Fuß, als fiele es ihm unendlich schwer zu akzeptieren, daß jener kleine Junge, dem er manche schmerzhafte Kopfnuß verpaßt hatte, heute ein gefürchteter Piratenführer war. Beiläufig, als hätte das alles nicht die geringste Bedeutung, fuhr er fort:
»Das ändert die Lage, und wenn ich dich noch einmal auf der Insel erwische, laß ich dich aufhängen.«
»Das weiß ich.«
»Niemals hätte ich geglaubt, daß so was aus dir werden würde«, versetzte Sancho Mendana mit sichtlichem Bedauern. »Es hat mir gefallen, dich als meinen eigenen Sohn anzusehen, und obwohl ich zugeben muß, daß sie dich dazu getrieben haben, kann ich einfach nicht akzeptieren, daß aus dir etwas geworden ist, was ich verabscheue.«
»Verabscheut Ihr die Piraten mehr als die Beamten der Casa oder die Sklavenhändler?«
»Nicht mehr, aber ebenso. Die ehrlichen Menschen in diesem Teil der Welt leben in ständiger Furcht, daß Leute von eurem Schlag sie mitten in der Nacht überfallen, ihre Frauen schänden, ihre Söhne umbringen und ihre Häuser anzünden. Kein Pirat, nicht einmal du, verdient etwas anderes als eine Schlinge um den Hals.«
»Tut mir leid, Euch so sprechen zu hören«, entgegnete der Junge betrübt. »Ich schätze Euch.«
»Ich dich auch. Doch du bist es, der sich außerhalb des Gesetzes gestellt hat.«
»Gesetz?« klagte der Margariteno. »Was für ein Gesetz? Das Gesetz, das mir alles genommen hat, was ich besaß?«
»Deine Mutter hat dich aus freien Stücken verlassen, und ich denke, es gibt kein Gesetz dagegen«, gab ihm der andere zu bedenken und legte die Pfeife zur Seite, als wollte sie ihm plötzlich nicht mehr schmecken. »Es war bestimmt nicht gerecht, deinen Vater einzusperren, darum habe ich euch auch bei der Flucht geholfen, aber zu akzeptieren, daß du zum Piratenkapitän wirst, ist was ganz anderes. Geh in dich! Noch ist es Zeit.«
Sebastián Heredia schüttelte den Kopf.
»Zu spät! Vor drei Wochen habe ich eine Schar Sklavenhändler ins Meer werfen lassen.«
»Wen schert denn das?« warf der Offizier ein. »Meiner Meinung nach ist es kein Verbrechen, Sklavenhändler über Bord zu werfen. Eher im Gegenteil.« Er legte seine Hand auf den Unterarm des Jungen und fuhr fast flehentlich fort: »Vergiß sie, gib dieses verfluchte Schiff auf, und such dir das Leben, das sie dir als Kind beigebracht haben.«
»Als Kind habe ich gelernt, daß nur ein reicher Mann aufzutauchen braucht, und alles, woran du glaubst, ist nur noch ein Scherbenhaufen«, lautete die bittere Antwort. »Eine einzige Tat löscht eine Million Worte aus.«
»Wenn du dein Leben nach dem ausrichtest, was sie dir in einem bestimmten Augenblick angetan haben, dann machst du dich zum Sklaven deiner Vergangenheit«, urteilte der Offizier überzeugt. »Jetzt, wo du schon ein Mann bist, hast du kein Recht mehr, deine Taten mit den Irrtümern deiner Mutter zu entschuldigen.«
»Da gehen die Meinungen auseinander.«
»Meinungen helfen dir wenig, wenn du unter dem Galgen stehst. Ob du willst oder nicht, wenn du eine Bande Verbrecher befehligst, wirst du selbst einer werden. Du kannst nicht im Dreck wühlen, ohne dir die Hände schmutzig zu machen.« Er zündete seine Pfeife wieder an, als würde diese ihm dabei helfen, die richtigen Argumente zu finden. »Ich weiß nicht, was du bisher getrieben hast, aber etwas sagt mir, daß du noch nicht verdorben bist. Gib das Schiff jetzt auf!«
»Um was zu tun?« fragte der Margariteno, als wäre er überzeugt, keine vernünftige Antwort zu erhalten. »Welches Schicksal erwartet mich, wenn ich das Schiff aufgebe und mir eine ehrenwerte Arbeit suche? Du hast von schwierigen Zeiten gesprochen, aber das waren sie schon, als mein Vater seine Haut an den Felsen dort unten ließ.« Verächtlich zuckte er mit den Schultern. »Die Casa schnürt den Leuten über Jahre hinweg die Kehle zu, bis sie schließlich ersticken. Da ist es mir schon lieber, wenn sie mich irgendwann gleich richtig aufhängen.«
»Und das Übel, das du inzwischen anrichtest oder das deine Männer anrichten, wenn du sie nicht im Griff hast?« Der Offizier senkte die Stimme, damit die Begleiter, die Sebastian draußen hatte warten lassen, ihn nicht hören konnten: »Piraten sind sie. Verstehst du nicht? Räuber, Frauenschänder und Mörder. Der Abschaum der Welt!«