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Die Vorstellung, daß Züpfner Marie beim Ankleiden zuschauen könnte oder zusehen darf, wie sie den Deckel auf die Zahnpastatube schraubt, machte mich ganz elend. Mein Bein schmerzte, und es kamen mir Zweifel, ob ich auf der dreißig-bis-fünfzig-Mark-Ebene noch eine Chance zum Tingeln gehabt hätte. Mich quälte auch die Vorstellung, daß Züpfner überhaupt nichts dran lag, Marie beim Zuschrauben der Zahnpastatuben zuzuschauen: meiner bescheidenen Erfahrung nach haben Katholiken nicht den geringsten Sinn für Details. Ich hatte Züpfners Telefonnummer auf meinem Blatt stehen, war noch nicht gewappnet, diese Nummer zu wählen. Man weiß nie, was ein Mensch unter weltanschaulichem Zwang alles tut, und vielleicht hatte sie Züpfner wirklich geheiratet, und Maries Stimme am Telefon sagen zu hören: Hier Züpfner — ich hätte es nicht ertragen. Um mit Leo telefonieren zu können, hatte ich unter Priesterseminaren im Telefonbuch gesucht, nichts gefunden, und ich wußte doch, daß es diese beiden Dinger gab: Leoninum und Albertinum. Schließlich fand ich die Kraft, den Hörer aufzunehmen und die Nummer der Auskunft zu wählen, ich bekam sogar Anschluß, und das Mädchen, das sich meldete, sprach sogar mit rheinischem Tonfall. Manchmal sehne ich mich danach, rheinisch zu hören, so sehr, daß ich von irgendeinem Hotel aus eine Bonner Telefondienststelle anrufe, um diese vollkommen unmartialische Sprache zu hören, der das R fehlt, genau der Laut, auf dem die militärische Disziplin hauptsächlich beruht. Ich hörte das »Bitte warten« nur fünfmal, dann meldete sich schon ein Mädchen, und ich fragte sie nach diesen »Dingern, in denen katholische Priester ausgebildet werden«; ich sagte, ich hätte unter Priesterseminaren nachgesehen, nichts gefunden, sie lachte und sagte, diese »Dinger« — sie sprach dabei sehr hübsch die Anführungszeichen — hießen Konvikte, und sie gab mir die Nummern von beiden. Die Mädchenstimme am Telefon hatte mich ein bißchen getröstet. Sie hatte so natürlich geklungen, nicht prüde, nicht kokett, und sehr rheinisch. Es gelang mir sogar, die Telegrammaufnahme zu bekommen und das Telegramm an Karl Emonds aufzugeben.

Es ist mir immer unverständlich gewesen, warum jedermann, der für intelligent gehalten werden möchte, sich bemüht, diesen Pflichthaß auf Bonn auszudrücken. Bonn hat immer gewisse Reize gehabt, schläfrige Reize, so wie es Frauen gibt, von denen ich mir vorstellen kann, daß ihre Schläfrigkeit Reize hat. Bonn verträgt natürlich keine Übertreibung, und man hat diese Stadt übertrieben. Eine Stadt, die keine Übertreibung verträgt, kann man nicht darstellen: immerhin eine seltene Eigenschaft. Es weiß ja auch jedes Kind, daß das Bonner Klima ein Rentnerklima ist, es bestehen da Beziehungen zwischen Luft- und Blutdruck. Was Bonn überhaupt nicht steht, ist diese defensive Gereiztheit: ich hatte zu Hause reichlich Gelegenheit, mit Ministerialbeamten, Abgeordneten, Generalen zu sprechen — meine Mutter ist eine Partytante —, und sie alle befinden sich im Zustand gereizter, manchmal fast weinerlicher Verteidigung. Sie lächeln alle so verquält ironisch über Bonn. Ich verstehe dieses Getue nicht. Wenn eine Frau, deren Reiz ihre Schläfrigkeit ist, anfinge, plötzlich wie eine Wilde Can-Can zu tanzen, so könnte man nur annehmen, daß sie gedopt wäre — aber eine ganze Stadt zu dopen, das gelingt ihnen nicht. Eine gute alte Tante kann einem beibringen, wie man Pullover strickt, Deckchen häkelt und Sherry serviert — ich würde doch nicht von ihr erwarten, daß sie mir einen zweistündigen geistreichen und verständnisvollen Vortrag über Homosexualität hält oder plötzlich in den Nutten-Jargon verfällt, den alle in Bonn so schmerzlich vermissen. Falsche Erwartungen, falsche Scham, falsche Spekulation auf Widernatürliches. Es würde mich nicht wundern, wenn sogar die Vertreter des Heiligen Stuhls anfingen, sich über Nuttenmangel zu beklagen. Ich lernte bei einer der Parties zu Hause einmal einen Parteimenschen kennen, der in einem Ausschuß zur Bekämpfung der Prostitution saß und sich bei mir flüsternd über den Nuttenmangel in Bonn beklagte. Bonn war vorher wirklich nicht so übel mit seinen vielen engen Gassen, Buchhandlungen, Burschenschaften, kleinen Bäckereien mit einem Hinterzimmer, wo man Kaffee trinken konnte. Bevor ich Leo anzurufen versuchte, humpelte ich auf den Balkon, um einen Blick auf meine Heimatstadt zu werfen. Die Stadt ist wirklich hübsch: das Münster, die Dächer des ehemaligen kurfürstlichen Schlosses, das Beethovendenkmal, der kleine Markt und der Hofgarten. Bonns Schicksal ist es, daß man ihm sein Schicksal nicht glaubt. Ich atmete in vollen Zügen oben auf meinem Balkon die Bonner Luft, die mir überraschenderweise wohltat: als Luftveränderung kann Bonn für Stunden Wunder wirken.

Ich ging vom Balkon weg, ins Zimmer zurück und wählte, ohne zu zögern, die Nummer des Dings, in dem Leo studiert. Ich war bange. Seitdem er katholisch geworden ist, habe ich Leo noch nicht gesehen. Er hat mir die Konversion auf seine kindlich korrekte Art mitgeteilt: »Lieber Bruder«, schrieb er, »teile ich Dir hierdurch mit, daß ich nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluß gekommen bin, zur katholischen Kirche überzutreten und mich auf den Priesterberuf vorzubereiten. Gewiß werden wir bald Gelegenheit haben, uns mündlich über diese entscheidende Veränderung in meinem Leben zu unterhalten. Dein Dich liebender Bruder Leo.« Schon die altmodische Art, wie er krampfhaft versucht, den Briefbeginn mit Ich zu umgehen, statt: ich teile Dir mit, teile ich Dir mit, schreibt — das war ganz Leo. Nichts von der Eleganz, mit der er Klavier spielen kann. Diese Art, alles geschäftsmäßig zu erledigen, steigert meine Melancholie. Wenn er so weitermacht, wird er einmal ein edler, weißhaariger Prälat. In diesem Punkt — im Briefstil — sind Vater und Leo gleich hilflos: sie schreiben über alles, als ob es um Braunkohle ginge. Es dauerte lange, ehe sich in dem Ding jemand bequemte, ans Telefon zu kommen, und ich fing gerade an, diese kirchliche Schlamperei, meiner Stimmung entsprechend, mit harten Worten zu brandmarken, sagte »Scheiße«, da hob dort jemand den Hörer ab, und eine überraschend heisere Stimme sagte: »Ja?« Ich war enttäuscht. Ich hatte mit einer sanften Nonnenstimme gerechnet, mit dem Geruch schwachen Kaffees und trockenen Kuchens, statt dessen: ein krächzender Mann, und es roch nach Krüllschnitt und Kohl, auf eine so penetrante Art, daß ich anfing zu husten.

»Pardon«, sagte ich schließlich, »könnte ich den Studenten der Theologie Leo Schnier sprechen?«

»Mit wem spreche ich?«

»Schnier«, sagte ich. Offenbar ging das über seinen Horizont. Er schwieg lange, ich fing wieder an zu husten, faßte mich und sagte: »Ich buchstabiere: Schule, Nordpol, Ida, Emil, Richard.«

»Was soll das?« sagte er schließlich, und ich glaubte, aus seiner Stimme soviel Verzweiflung zu hören, wie ich empfand. Vielleicht hatten sie einen netten alten, pfeiferauchenden Professor dort ans Telefon gesteckt, und ich kramte in aller Eile ein paar lateinische Vokabeln zusammen und sagte demütig: »Sum frater leonis.« Ich kam mir unfair dabei vor, ich dachte an die vielen, die vielleicht hin und wieder den Wunsch verspürten, jemand dort zu sprechen, und die nie ein lateinisches Wort gelernt hatten.

Merkwürdigerweise kicherte er jetzt und sagte: »Frater tuus est in refectorio — beim Essen«, sagte er etwas lauter, »die Herren sind beim Essen, und während des Essens darf nicht gestört werden.«

»Die Sache ist sehr dringend«, sagte ich.

»Todesfall?«fragte er.

»Nein«, sagte ich, »aber fast.«

»Also schwerer Unfall?«

»Nein«, sagte ich, »ein innerlicher Unfall.«

»Ach«, sagte er und seine Stimme klang etwas milder, »innere Verblutungen.«

»Nein«, sagte ich, »seelisch. Eine rein seelische Angelegenheit.« Offenbar war das ein Fremdwort für ihn, er schwieg auf eine eisige Weise.

»Mein Gott«, sagte ich, »der Mensch besteht doch aus Leib und Seele.« Sein Brummen schien Zweifel an dieser Behauptung auszudrücken, zwischen zwei Zügen aus seiner Pfeife murmelte er: »Augustin — Bonaventura — Cusanus — Sie sind auf dem falschen Wege.«

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