»Du meinst Wieneken?«
»Ja«, sagte ich. »Du erinnerst dich doch noch an Edgar? In Köln habt ihr euch doch bei uns getroffen, und zu Hause spielten wir doch immer bei Wienekens und aßen Kartoffelsalat.«
»Ja, natürlich«, sagte er, »natürlich erinnere ich mich, aber Wieneken ist gar nicht im Lande, soviel ich weiß. Jemand hat mir erzählt, daß er eine Studienreise macht, mit irgendeiner Kommission, Indien oder Thailand, ich weiß nicht genau.«
»Bist du sicher?« fragte ich.
»Ziemlich«, sagte er, »ja, jetzt erinnere ich mich, Heribert hats mir erzählt.«
»Wer?« schrie ich, »wer hats dir erzählt?«
Er schwieg, ich hörte ihn nicht einmal mehr seufzen, und ich wußte jetzt, warum er nicht zu mir kommen wollte. »Wer?« schrie ich noch einmal, aber er gab keine Antwort. Er hatte sich auch schon dieses Beichtstuhlhüsteln angewöhnt, das ich manchmal gehört hatte, wenn ich in der Kirche auf Marie wartete.
»Es ist besser«, sagte ich leise, »wenn du auch morgen nicht kommst. Es wäre schade um deine versäumte Vorlesung. Sag mir nur noch, daß du auch Marie gesehen hast.«
Offenbar hatte er wirklich nichts als Seufzen und Hüsteln gelernt. Jetzt seufzte er wieder, tief, unglücklich, lange. »Du brauchst mir nicht zu antworten«, sagte ich, »grüß mir nur den netten Kerl, mit dem ich heute zweimal bei euch telefoniert habe.« »Strüder?« fragte er leise.
»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er klang so nett am Telefon.«
»Aber den nimmt doch keiner ernst«, sagte er, »der ist doch — ist doch sozusagen auf Gnadenbrot gesetzt.« Leo brachte es tatsächlich fertig, eine Art Lachen zustandezubringen, »er schleicht sich nur manchmal ans Telefon und redet Unsinn.«
Ich stand auf, blickte durch einen Spalt im Vorhang auf die Uhr unten auf dem Platz. Es war drei Minuten vor neun. »Du mußt jetzt gehen«, sagte ich, »sonst bekommst dus doch in die Papiere. Und versäum mir morgen deine Vorlesung nicht.«
»Aber versteh mich doch«, flehte er.
»Verflucht«, sagte ich, »ich versteh dich ja. Nur zu gut.«
»Was bist du eigentlich für ein Mensch?« fragte er.
»Ich bin ein Clown«, sagte ich, »und sammle Augenblicke. Tschüs.« Ich legte auf.
25
Ich hatte vergessen, ihn nach seinen Erlebnissen beim Militär zu fragen, aber
vielleicht würde sich irgendwann die Gelegenheit dazu ergeben. Sicher würde er die
»Verpflegung« loben — so gut hatte er zu Hause nie zu essen bekommen —, die
Strapazen für »erzieherisch äußerst wertvoll« halten und die Berührung mit dem Mann
aus dem Volke für »ungeheuer lehrreich«. Ich konnte mir sparen, ihn danach zu
fragen. Er würde diese Nacht in seinem Konviktsbett kein Auge zutun, sich in
Gewissensbissen hin- und herwälzen und sich fragen, ob es richtig gewesen war, nicht
zu mir zu kommen. Ich hatte ihm soviel sagen wollen: daß es besser für ihn wäre, in
Südamerika oder Moskau, irgendwo in der Welt, nur nicht in Bonn, Theologie zu
studieren. Er mußte doch begreifen, daß für das, was er seinen Glauben nannte, hier
kein Platz war, zwischen Sommerwild und Blothert, in Bonn war ein konvertierter
Schnier, der sogar Priester wurde, ja fast geeignet, die Börsenkurse zu
festigen. Ich mußte einmal mit ihm über alles reden, am besten, wenn zu Hause
jour fixe war. Wir beiden abtrünnigen Söhne würden uns zu Anna
in die Küche setzen, Kaffee trinken, alte Zeiten heraufbeschwören, glorreiche
Zeiten, in denen in unserem Park noch mit Panzerfäusten geübt worden war und
Wehrmachtsautos vor der Einfahrt hielten, als wir Einquartierung bekamen. Ein
Offizier — Major, oder sowas — mit Feldwebeln und Soldaten, ein Auto mit Standarte,
und sie alle hatten nichts anderes im Kopf als Spiegeleier, Kognak, Zigaretten und
handgreifliche Scherze mit den Mädchen in der Küche. Manchmal wurden sie dienstlich,
d.h. wichtigtuerisch: dann traten sie vor unserem Haus an, der Offizier warf sich in
die Brust, steckte sogar seine Hand unter den Rock, wie ein Schmierenschauspieler,
der einen Obristen spielt, und schrie etwas vom »Endsieg«. Peinlich, lächerlich,
sinnlos. Als dann herauskam, daß Frau Wieneken nachts heimlich mit ein paar Frauen
durch den Wald gegangen war, durch die deutschen und amerikanischen Linien hindurch,
um drüben bei ihrem Bruder, der eine Bäckerei hatte, Brot zu holen, wurde die
Wichtigtuerei lebensgefährlich. Der Offizier wollte Frau Wieneken und zwei andere
Frauen wegen Spionage und Sabotage erschießen lassen (Frau Wieneken hatte bei einem
Verhör zugegeben, drüben mit einem amerikanischen Soldaten gesprochen zu
haben). Aber da wurde mein Vater — zum zweitenmal in seinem Leben, soweit ich mich
erinnern kann, — energisch, holte die Frauen aus dem improvisierten Gefängnis,
unserer Bügelkammer, heraus und versteckte sie im Bootsschuppen unten am Ufer. Er
wurde richtig tapfer, schrie den Offizier an, der schrie ihn an. Das Lächerlichste
an dem Offizier waren seine Orden, die auf der Brust bebten vor Empörung, während
meine Mutter mit ihrer sanften Stimme sagte: »Meine Herren, meine Herren — es gibt
schließlich Grenzen.« Was ihr peinlich an der Sache war, war die Tatsache, daß zwei
»Herren« sich anbrüllten. Mein Vater sagte: »Bevor diesen Frauen ein Leid geschieht,
müssen Sie mich erschießen — bitte« und er knöpfte wirklich seinen Rock auf und
hielt dem Offizier seine Brust hin, aber die Soldaten zogen dann ab, weil die
Amerikaner schon auf den Rheinhöhen waren, und die Frauen konnten aus dem
Bootsschuppen wieder raus. Das Peinlichste an diesem Major, oder was er war, waren
seine Orden. Undekoriert hätte er vielleicht noch die Möglichkeit gehabt, eine
gewisse Würde zu wahren. Wenn ich die miesen Spießer bei Mutters jour fixe
mit ihren Orden herumstehen sehe, denke ich immer an diesen Offizier, und
sogar Sommerwilds Orden kommt mir dann noch erträglich vor: Pro Ecclesia
und irgend was. Sommerwild tut immerhin für seine Kirche Dauerhaftes: er
hält seine »Künstler« bei der Stange und hat noch Geschmack genug, den Orden »an
sich« für peinlich zu halten. Er trägt ihn nur bei Prozessionen, feierlichen
Gottesdiensten und Fernsehdiskussionen. Das Fernsehen bringt auch ihn um den Rest
von Scham, den ich ihm zubilligen muß. Wenn unser Zeitalter einen Namen verdient,
müßte es Zeitalter der Prostitution heißen. Die Leute gewöhnen sich ans
Hurenvokabularium. Ich traf Sommerwild einmal nach einer solchen Diskussion (»Kann
moderne Kunst religiös sein?«), und er fragte mich: »War ich gut? Fanden Sie mich
gut?«, wortwörtlich Fragen, wie sie Huren ihren abziehenden Freiern stellen. Es
fehlte nur noch, daß er gesagt hätte: »Empfehlen Sie mich weiter.« Ich sagte ihm
damals: »Ich finde Sie nicht gut, kann Sie also gestern nicht
gut gefunden haben.« Er war vollkommen niedergeschlagen, obwohl ich meinen Eindruck
von ihm noch sehr schonend ausgedrückt hatte. Er war abscheulich gewesen; um ein
paar billiger Bildungspointen willen hatte er seinen Gesprächspartner, einen etwas
hilflosen Sozialisten, »geschlachtet« oder »abgeschossen«, vielleicht auch nur »zur
Sau gemacht«. Listig, indem er fragte: »So, Sie finden also den frühen Picasso
abstrakt?« brachte er den alten, grauhaarigen Mann, der etwas von Engagement
murmelte, vor zehn Millionen Zuschauern um, indem er sagte: »Ach, Sie meinen wohl
sozialistische Kunst — oder gar sozialistischen Realismus?«
Als ich ihn am anderen Morgen auf der Straße traf und ihm sagte, ich hätte ihn
schlecht gefunden, war er wie vernichtet. Daß einer von zehn
Millionen ihn nicht gut gefunden hatte, traf seine Eitelkeit schwer, aber er wurde
durch eine »wahre Welle des Lobes« in allen katholischen Zeitungen reichlich
entschädigt. Sie schrieben, er habe für die »gute Sache« einen Sieg errungen. Ich
steckte mir die drittletzte Zigarette an, nahm die Guitarre wieder hoch und
klimperte ein bißchen vor mich hin. Ich dachte darüber nach, was ich Leo alles
erzählen, was ich ihn fragen wollte. Immer, wenn ich ernsthaft mit ihm reden mußte,
machte er entweder Abitur oder hatte Angst vor einem Scrutinium. Ich überlegte auch,
ob ich wirklich die Lauretanische Litanei singen sollte; besser nicht: es könnte
einer auf die Idee kommen, mich für einen Katholiken zu halten, sie würden mich für
»einen der unsrigen« erklären, und es könnte eine hübsche Propaganda für sie draus
werden, sie machen sich ja alles »dienstbar«, und das Ganze würde mißverständlich
und verwirrend wirken, daß ich gar nicht katholisch war, nur die Lauretanische
Litanei schön fand und Sympathie mit dem Judenmädchen empfand, dem sie gewidmet war,
sogar das würde niemand verstehen, und durch irgendwelche Drehs würden sie ein paar
Millionen katholons an mir entdecken, mich vors Fernsehen schleppen — und die
Aktienkurse würden noch mehr steigen. Ich mußte mir einen anderen Text suchen,
schade, ich hätte am liebsten wirklich die Lauretanische Litanei gesungen, aber auf
der Bonner Bahnhofstreppe konnte das nur mißverständlich sein. Schade.