3
Ich fühlte mich zum ersten Mal halbwegs wohl in dieser Wohnung; es war warm und sauber, und ich dachte, als ich meinen Mantel an den Kleiderhaken hängte und meine Guitarre in die Ecke stellte, darüber nach, ob eine Wohnung vielleicht doch etwas mehr als eine Selbsttäuschung ist. Ich bin nicht seßhaft, werde es nie sein — und Marie ist noch weniger seßhaft als ich, und scheint sich doch entschlossen zu haben, es endgültig zu werden. Sie wurde schon nervös, wenn ich an einem Ort einmal länger als eine Woche hintereinander engagiert war. Monika Silvs war auch diesmal so nett gewesen, wie sie immer war, wenn wir ihr ein Telegramm schickten; sie hatte sich vom Hausverwalter die Schlüssel besorgt, alles sauber gemacht, Blumen ins Wohnzimmer gestellt, den Eisschrank mit allem möglichen gefüllt. Gemahlener Kaffee stand in der Küche auf dem Tisch, eine Flasche Kognak daneben. Zigaretten, eine brennende Kerze neben den Blumen auf dem Wohnzimmertisch. Monika kann ungeheuer gefühlvoll sein, bis zur Sentimentalität, sie kann sogar Kitschiges tun; die Kerze, die sie mir da auf den Tisch gestellt hatte, war eine von den künstlich betropften und hätte die Prüfung durch einen »Katholischen Kreis für Geschmacksfragen« ganz sicher nicht bestanden, aber wahrscheinlich hatte sie in der Eile keine andere Kerze gefunden oder kein Geld für eine teure, geschmackvolle Kerze gehabt, und ich spürte, daß gerade dieser geschmacklosen Kerze wegen meine Zärtlichkeit für Monika Silvs sich bis nahe an den Punkt ausdehnte, wo meine unselige Veranlagung zur Monogamie mir Grenzen gesetzt hat. Die anderen Katholiken aus dem Kreis würden nie riskieren, kitschig oder sentimental zu sein, sie würden sich nie eine Blöße geben, jedenfalls eher in puncto Moral als in puncto Geschmack. Ich konnte sogar Monikas Parfüm, das viel zu herb und zu modisch für sie ist, irgendein Zeug, das, glaube ich, Taiga heißt, noch in der Wohnung riechen. Ich zündete mir an Monikas Kerze eine von Monikas Zigaretten an, holte den Kognak aus der Küche, das Telefonbuch aus der Diele und hob den Telefonhörer ab. Tatsächlich hatte Monika auch das für mich in Ordnung gebracht. Das Telefon war angeschlossen. Das helle Tuten erschien mir wie der Ton eines unendlich weiten Herzens, ich liebte es in diesem Augenblick mehr als Meeresrauschen, mehr als den Atem der Stürme und Löwenknurren. Irgendwo in diesem hellen Tuten verborgen war Maries Stimme, Leos Stimme, Monikas Stimme. Ich legte langsam den Hörer auf. Er war die einzige Waffe, die mir geblieben war, und ich würde bald Gebrauch davon machen. Ich zog mein rechtes Hosenbein hoch und betrachtete mein aufgeschürftes Knie; die Schürfungen waren oberflächlich, die Schwellung harmlos, ich goß mir einen großen Kognak ein, trank das Glas halb leer und goß den Rest über mein wundes Knie, humpelte in die Küche zurück und stellte den Kognak in den Eisschrank. Erst jetzt fiel mir ein, daß Kostert mir den Schnaps, den ich mir ausbedungen hatte, gar nicht gebracht hatte. Sicher hatte er geglaubt, es wäre aus pädagogischen Gründen besser, mir keinen zu bringen, und hatte der christlichen Sache damit sieben Mark fünfzig gespart. Ich nahm mir vor, ihn anzurufen und ihn um Überweisung des Betrags zu bitten. Dieser Hund sollte nicht so ganz ungeschoren davonkommen, und außerdem brauchte ich das Geld. Ich hatte fünf Jahre lang viel mehr verdient, als ich hätte ausgeben müssen, und doch war alles weg. Ich konnte natürlich weiter auf der dreißig-bis-fünfzig-Mark-Ebene tingeln, sobald mein Knie wieder ganz heil war; es war mir an sich egal, das Publikum in diesen miesen Sälen ist sogar netter als in den Varietés. Aber dreißig bis fünfzig Mark pro Tag sind einfach zu wenig, die Hotelzimmer zu klein, man stößt beim Training an Tisch und Schränke, und ich bin der Meinung, daß ein Badezimmer kein Luxus ist, und wenn man mit fünf Koffern reist, ein Taxi keine Verschwendung. Ich nahm den Kognak noch einmal aus dem Eisschrank und trank einen Schluck aus der Flasche. Ich bin kein Säufer. Alkohol tut mir wohl, seitdem Marie gegangen ist. Ich war auch nicht mehr an Geldschwierigkeiten gewöhnt, und die Tatsache, daß ich nur noch eine Mark besaß und keine Aussicht, bald erheblich dazu zu verdienen, machte mich nervös. Das einzige, was ich wirklich verkaufen könnte, wäre das Fahrrad gewesen, aber wenn ich mich entschließen würde, tingeln zu gehen, würde das Fahrrad sehr nützlich sein, es würde mir Taxi und Fahrgeld ersparen. An den Besitz der Wohnung war eine Bedingung geknüpft: ich durfte sie nicht verkaufen oder vermieten. Ein typisches Reicheleutegeschenk. Immer ist ein Haken dabei. Ich brachte es fertig, keinen Kognak mehr zu trinken, ging ins Wohnzimmer und schlug das Telefonbuch auf.
4
Ich bin in Bonn geboren und kenne hier viele Leute: Verwandte, Bekannte, ehemalige Mitschüler. Meine Eltern wohnen hier, und mein Bruder Leo, der unter Züpfners Patenschaft konvertiert ist, studiert hier katholische Theologie. Meine Eltern würde ich notwendigerweise einmal sehen müssen, schon um die Geldgeschichten mit ihnen zu regeln. Vielleicht werde ich das auch einem Rechtsanwalt übergeben. Ich bin in dieser Frage noch unentschlossen. Seit dem Tod meiner Schwester Henriette existieren meine Eltern für mich nicht mehr als solche. Henriette ist schon siebzehn Jahre tot. Sie war sechzehn, als der Krieg zu Ende ging, ein schönes Mädchen, blond, die beste Tennisspielerin zwischen Bonn und Remagen. Damals hieß es, die jungen Mädchen sollten sich freiwillig zur Flak melden, und Henriette meldete sich, im Februar 1945. Es ging alles so rasch und reibungslos, daß ichs gar nicht begriff. Ich kam aus der Schule, überquerte die Kölner Straße und sah Henriette in der Straßenbahn sitzen, die gerade in Richtung Bonn abfuhr. Sie winkte mir zu und lachte, und ich lachte auch. Sie hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, einen hübschen dunkelblauen Hut auf und den dicken blauen Wintermantel mit dem Pelzkragen an. Ich hatte sie noch nie mit Hut gesehen, sie hatte sich immer geweigert, einen aufzusetzen. Der Hut veränderte sie sehr. Sie sah wie eine junge Frau aus. Ich dachte, sie mache einen Ausflug, obwohl es eine merkwürdige Zeit für Ausflüge war. Aber den Schulen war damals alles zuzutrauen. Sie versuchten sogar, uns im Luftschutzkeller Dreisatz beizubringen, obwohl wir die Artillerie schon hörten. Unser Lehrer Brühl sang mit uns »Frommes und Nationales« wie er es nannte, worunter er »Ein Haus voll Glorie schauet« wie »Siehst du im Osten das Morgenrot« verstand. Nachts, wenn es für eine halbe Stunde einmal ruhig wurde, hörte man immer nur marschierende Füße: italienische Kriegsgefangene (es war uns in der Schule erklärt worden, warum die Italiener jetzt nicht mehr Verbündete waren, sondern als Gefangene bei uns arbeiteten, aber ich habe bis heute nicht begriffen, wieso), russische Kriegsgefangene, gefangene Frauen, deutsche Soldaten; marschierende Füße die ganze Nacht hindurch. Kein Mensch wußte genau, was los war.
Henriette sah wirklich aus, als mache sie einen Schulausflug. Denen war alles zuzutrauen. Manchmal, wenn wir zwischen den Alarmen in unserem Klassenraum saßen, hörten wir durchs offene Fenster richtige Gewehrschüsse, und wenn wir erschrocken zum Fenster hinblickten, fragte der Lehrer Brühl uns, ob wir wüßten, was das bedeute. Wir wußten es inzwischen: es war wieder ein Deserteur oben im Wald erschossen worden. »So wird es allen gehen«, sagte Brühl, »die sich weigern, unsere heilige deutsche Erde gegen die jüdischen Yankees zu verteidigen.« (Vor kurzem traf ich ihn noch einmal, er ist jetzt alt, weißhaarig, Professor an einer Pädagogischen Akademie und gilt als ein Mann mit »tapferer politischer Vergangenheit«, weil er nie in der Partei war.)
Ich winkte noch einmal hinter der Straßenbahn her, in der Henriette davonfuhr, ging durch unseren Park nach Hause, wo meine Eltern mit Leo schon bei Tisch saßen. Es gab Brennsuppe, als Hauptgericht Kartoffeln mit Soße und zum Nachtisch einen Apfel. Erst beim Nachtisch fragte ich meine Mutter, wohin denn Henriettes Schulausflug führe. Sie lachte ein bißchen und sagte: »Ausflug. Unsinn. Sie ist nach Bonn gefahren, um sich bei der Flak zu melden. Schäle den Apfel nicht so dick. Junge, sieh mal hier«, sie nahm tatsächlich die Apfelschalen von meinem Teller, schnippelte daran herum und steckte die Ergebnisse ihrer Sparsamkeit, hauchdünne Apfelscheiben, in den Mund. Ich sah Vater an. Er blickte auf seinen Teller und sagte nichts. Auch Leo schwieg, aber als ich meine Mutter noch einmal ansah, sagte sie mit ihrer sanften Stimme: »Du wirst doch einsehen, daß jeder das Seinige tun muß, die jüdischen Yankees von unserer heiligen deutschen Erde wieder zu vertreiben.« Sie warf mir einen Blick zu, mir wurde unheimlich, sie sah dann Leo mit dem gleichen Blick an, und es schien mir, als sei sie drauf und dran, auch uns beide gegen die jüdischen Yankees zu Felde zu schicken. »Unsere heilige deutsche Erde«, sagte sie, »und sie sind schon tief in der Eifel drin.« Mir war zum Lachen zumute, aber ich brach in Tränen aus, warf mein Obstmesser hin und lief auf mein Zimmer. Ich hatte Angst, wußte sogar warum, hätte es aber nicht ausdrücken können, und ich wurde rasend, als ich an die verfluchten Apfelschalen dachte. Ich blickte auf die mit dreckigem Schnee bedeckte deutsche Erde in unserem Garten, zum Rhein, über die Trauerweiden hinweg aufs Siebengebirge, und diese ganze Szenerie kam mir idiotisch vor. Ich hatte ein paar von diesen »jüdischen Yankees« gesehen: auf einem Lastwagen wurden sie vom Venusberg runter nach Bonn zu einer Sammelstelle gebracht: sie sahen verfroren aus, ängstlich und jung; wenn ich mir unter Juden überhaupt etwas vorstellen konnte, dann eher etwas wie die Italiener, die noch verfrorener als die Amerikaner aussahen, viel zu müde, um noch ängstlich zu sein. Ich trat gegen den Stuhl, der vor meinem Bett stand, und als er nicht umfiel, trat ich noch einmal dagegen. Er kippte endlich und schlug die Glasplatte auf meinem Nachttisch in Stücke. Henriette mit blauem Hut und Rucksack. Sie kam nie mehr zurück, und wir wissen bis heute nicht, wo sie beerdigt ist. Irgendjemand kam nach Kriegsende zu uns und meldete, daß sie »bei Leverkusen gefallen« sei.