Ich nahm den Finger von der Wählscheibe und rief Kalick nicht an. Ich hatte ihn nur fragen wollen, ob er seine Vergangenheit inzwischen bewältigt habe, ob sein Verhältnis zur Macht noch in Ordnung sei und ob er mich über die jüdische Geistigkeit aufklären könne. Kalick hatte einmal während einer Hitlerjugend Veranstaltung einen Vortrag gehalten mit dem Titel »Machiavelli oder der Versuch, ein Verhältnis zur Macht zu gewinnen«. Ich verstand nicht viel davon, nur Kalicks »offenes, hier deutlich ausgesprochenes Bekenntnis zur Macht«, aber an den Mienen der anderen anwesenden Hitlerjugendführer konnte ich ablesen, daß sogar ihnen diese Rede zu weit ging. Kalick sprach ohnehin kaum von Machiavelli, nur von Kalick, und die Mienen der anderen Führer zeigten, daß sie diese Rede für eine öffentliche Schamlosigkeit hielten. Es gibt ja diese Burschen, von denen man soviel in den Zeitungen liest: Schamverletzer. Kalick war nichts weiter als ein politischer Schamverletzer, und wo er auftrat, ließ er Schamverletzte hinter sich.
Ich freute mich auf den jour fixe. Ich würde endlich etwas vom Geld meiner Eltern haben: Oliven und Salzmandeln, Zigaretten — ich würde auch bündelweise Zigarren einstecken und sie unter Preis verkaufen. Ich würde Kalick den Orden von der Brust reißen und ihn ohrfeigen. Verglichen mit ihm, kam mir sogar meine Mutter menschlich vor. Als ich ihn zum letztenmal traf, bei meinen Eltern in der Garderobe, hatte er mich traurig angesehen und gesagt: »Es gibt für jeden Menschen eine Chance, die Christen nennen es Gnade.« Ich hatte ihm keine Antwort gegeben. Ich war schließlich kein Christ. Es war mir eingefallen, daß er bei seinem Vortrag damals auch vom »Eros der Grausamkeit« gesprochen hatte und vom Machiavellismus des Sexuellen. Wenn ich an seinen Sexualmachiavellismus dachte, hatte ich Mitleid mit den Huren, zu denen er ging, wie ich Mitleid mit den Ehefrauen hatte, die irgendeinem Unhold vertraglich verpflichtet waren. Ich dachte an die unzähligen hübschen jungen Mädchen, deren Schicksal es war, entweder gegen Geld mit Typen wie Kalick oder ohne Bezahlung mit einem Ehemann die Sache zu tun, ohne daß sie Lust dazu hatten.
18
Ich wählte statt Kalicks Nummer die des Dings, in dem Leo wohnt. Irgendwann mußten sie doch mit dem Essen fertig werden und ihre sinnlichkeitsdämpfenden Salate verschlungen haben. Ich war froh, als sich dieselbe Stimme wie vorhin wieder meldete. Er rauchte jetzt eine Zigarre, und der Kohlgeruch war weniger deutlich.
»Schnier«, sagte ich, »Sie erinnern sich?«
Er lachte. »Natürlich«, sagte er, »ich hoffe, Sie haben mich nicht wörtlich genommen und Ihren Augustinus tatsächlich verbrannt.«
»Doch«, sagte ich, »ich hab's getan. Das Ding auseinandergerissen und bogenweise in den Ofen gesteckt.«
Er schwieg einen Augenblick. »Sie scherzen«, sagte er heiser.
»Nein«, sagte ich, »in solchen Dingen bin ich konsequent.«
»Um Gottes willen«, sagte er, »ist Ihnen denn das Dialektische an meiner Äußerung nicht klar geworden?«
»Nein«, sagte ich, »ich bin nun mal eine gerade, ehrliche, unkomplizierte Haut. Was ist nun mit meinem Bruder«, sagte ich, »wann werden die Herren die Güte haben, mit dem Essen fertig zu sein?«
»Der Nachtisch ist eben reingebracht worden«, sagte er, »es kann nicht mehr lange dauern.«
»Was gibt's denn?« fragte ich.
»Zum Nachtisch?«
»Ja.«
»Eigentlich darf ich's nicht sagen, aber Ihnen sag ich's. Pflaumenkompott mit einem Schlag Sahne drauf. Sieht ganz hübsch aus. Mögen Sie Pflaumen?«
»Nein«, sagte ich, »ich habe eine ebenso unerklärliche wie unüberwindliche Abneigung gegen Pflaumen.«
»Sie sollten Hoberers Versuch über die Idiosynkrasie lesen. Hängt alles mit sehr, sehr frühen Erlebnissen — meistens vor der Geburt — zusammen. Interessant. Hoberer hat achthundert Fälle genau untersucht. Sie sind Melancholiker?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich hörs an der Stimme. Sie sollten beten und ein Bad nehmen.«
»Gebadet habe ich schon, und beten kann ich nicht«, sagte ich.
»Es tut mir leid«, sagte er, »ich werde Ihnen einen neuen Augustinus stiften. Oder Kierkegaard.«
»Den hab ich noch«, sagte ich, »sagen Sie, könnten Sie meinem Bruder noch etwas ausrichten?«
»Gern«, sagte er.
»Sagen Sie ihm, er soll mir Geld mitbringen. Soviel er auftreiben kann.«
Er murmelte vor sich hin, sagte dann laut: »Ich notiers nur. Soviel Geld wie möglich mitbringen. Übrigens sollten Sie Bonaventura wirklich lesen. Großartig — und verachten Sie mir das neunzehnte Jahrhundert nicht so sehr. Ihre Stimme klingt, als wenn Sie das neunzehnte Jahrhundert verachten.«
»Stimmt«, sagte ich, »ich hasse es.«
»Irrtum«, sagte er, »Unsinn. Nicht einmal die Architektur war so schlecht, wie sie gemacht wird.« Er lachte. »Warten Sie bis zum Ende des zwanzigsten, bevor Sie das neunzehnte Jahrhundert hassen. Macht es Ihnen was aus, wenn ich zwischendurch meinen Nachtisch esse.«
»Pflaumen?« fragte ich.
»Nein«, sagte er, er lachte dünn: »Ich bin in Ungnade gefallen und bekomme keine Herrenkost, nur noch Dienerkost; heute als Nachtisch Karamelpudding. Übrigens«, er hatte offenbar schon einen Löffel Pudding im Mund, schluckte, sprach kichernd weiter, »übrigens räche ich mich. Ich telefoniere stundenlang mit einem früheren Konfrater in München, der auch ein Schüler Schelers war. Manchmal rufe ich Hamburg an, die Kinoauskunft, oder in Berlin den Wetterdienst, aus Rache. Das fällt ja bei diesem Selbstwählsystem gar nicht auf.« Er aß wieder, kicherte, flüsterte dann: »Die Kirche ist ja reich, stinkreich. Sie stinkt wirklich vor Geld — wie der Leichnam eines reichen Mannes. Arme Leichen riechen gut — wußten Sie das?«
»Nein«, sagte ich. Ich spürte, wie meine Kopfschmerzen nachließen, und malte um die Nummer des Dings einen roten Kreis.
»Sie sind ungläubig, nicht wahr? Sagen Sie nicht nein: ich höre an Ihrer Stimme, daß Sie ungläubig sind. Stimmts?«
»Ja«, sagte ich.
»Das macht nichts, gar nichts«, sagte er, »es gibt da eine Stelle bei Isaias, die von Paulus im Römerbrief sogar zitiert wird. Hören Sie gut zu: Die werden es sehen, denen von ihm noch nichts verkündet ward, und die verstehen, die noch nichts vernommen haben.« Er kicherte bösartig. »Haben Sie verstanden?«
»Ja«, sagte ich matt.
Er sagte laut: »Guten Abend, Herr Direktor, guten Abend«, und legte auf. Seine Stimme hatte zuletzt auf eine bösartige Weise unterwürfig geklungen. Ich ging zum Fenster und blickte auf die Uhr draußen an der Ecke. Es war schon fast halb neun. Ich fand, sie aßen ziemlich ausgiebig. Ich hätte Leo gern gesprochen, aber es ging mir jetzt fast nur noch um das Geld, das er mir leihen würde. Ich wurde mir allmählich über den Ernst meiner Situation klar. Manchmal weiß ich nicht, ob das, was ich handgreiflich realistisch erlebt habe, wahr ist, oder das, was ich wirklich erlebe. Ich werfe die Dinge durcheinander. Ich hätte nicht schwören können, ob ich den Jungen in Osnabrück gesehen hatte, aber ich hätte geschworen, daß ich mit Leo Holz gesägt hatte. Ich hätte auch nicht beschwören können, ob ich zu Edgar Wieneken nach Kalk zu Fuß gegangen war, um Großvaters Scheck über zweiundzwanzig Mark in Bargeld zu verwandeln. Daß ich mich der Details so genau erinnere, ist keine Garantie — der grünen Bluse, die die Bäckerin trug, die mir die Brötchen schenkte, oder der Löcher im Strumpf eines jungen Arbeiters, der an mir vorbeigegangen war, als ich auf der Türschwelle saß und auf Edgar wartete. Ich war vollkommen sicher, auf Leos Oberlippe Schweißtropfen gesehen zu haben, als wir das Holz durchsägten. Ich entsann mich auch aller Einzelheiten der Nacht, in der Marie in Köln die erste Fehlgeburt hatte. Heinrich Behlen hatte mir ein paar kleine Auftritte vor Jugendlichen für zwanzig Mark den Abend vermittelt. Marie war meistens mit mir gegangen, an diesem Abend aber zu Hause geblieben, weil sie sich schlecht fühlte, und als ich spät mit den neunzehn Mark Reingewinn in der Tasche nach Hause kam, fand ich das Zimmer leer, sah im aufgeschlagenen Bett das blutige Bettuch und fand den Zettel auf der Kommode: »Bin im Krankenhaus. Nichts Schlimmes. Heinrich weiß Bescheid.« Ich rannte sofort los, ließ mir von Heinrichs griesgrämiger Haushälterin sagen, in welchem Krankenhaus Marie lag, lief dorthin, aber sie ließen mich nicht rein, ich mußte erst Heinrich im Krankenhaus suchen, ans Telefon rufen lassen, bevor die Nonne an der Pforte mich reinließ. Es war schon halb zwölf nachts, und als ich endlich in Maries Zimmer kam, war schon alles vorbei, sie lag da im Bett, ganz blaß, weinend, neben ihr eine Nonne, die den Rosenkranz betete. Die Nonne betete ruhig weiter, während ich Maries Hand hielt und Heinrich ihr mit leiser Stimme zu erklären versuchte, was mit der Seele des Wesens geschehen würde, das sie nicht hatte gebären können. Marie schien fest davon überzeugt, daß das Kind — sie nannte es so — nie in den Himmel kommen könnte, weil es nicht getauft war. Sie sagte immer, es würde in der Vorhölle bleiben, und ich erfuhr in dieser Nacht zum erstenmal, welche scheußlichen Sachen die Katholiken im Religionsunterricht lernen. Heinrich war vollkommen hilflos Maries Ängsten gegenüber, und gerade, daß er so hilflos war, empfand ich als tröstlich. Er sprach von der Barmherzigkeit Gottes, die ja »wohl größer ist als das mehr juristische Denken der Theologen«. Die ganze Zeit über betete die Nonne den Rosenkranz. Marie — sie kann in religiösen Dingen sehr hartnäckig sein — fragte immer wieder, wo denn die Diagonale zwischen Gesetz und Barmherzigkeit verlaufe. Ich erinnerte mich des Ausdrucks Diagonale. Schließlich ging ich raus, ich kam mir wie ein Ausgestoßener, vollkommen überflüssig vor. Ich stellte mich an ein Flurfenster, rauchte, blickte über die Mauer auf der anderen Seite in einen Autofriedhof. An der Mauer klebten lauter Wahlplakate. Schenk Dein Vertrauen der SPD. Wählt CDU. Offenbar lag ihnen daran, die Kranken, die aus ihren Zimmern vielleicht auf die Mauer blicken konnten, mit ihrer unbeschreiblichen Stupidität zu deprimieren. Schenk Dein Vertrauen der SPD war ja geradezu genial, fast literarisch gegen den Stumpfsinn, der darin lag, einfach WÄHLT CDU auf ein Plakat zu drucken. Es war fast zwei Uhr nachts geworden, und ich stritt mich später mit Marie darüber, ob das, was ich dann sah, wirklich passiert war oder nicht. Es kam ein streunender Hund von links, er schnüffelte an einer Laterne, dann an dem SPD-Plakat, an dem CDU-Plakat und pinkelte gegen das CDU-Plakat und lief weiter, langsam in die Straße hinein, die rechts vollkommen dunkel wurde. Marie stritt mir, wenn wir später über diese trostlose Nacht sprachen, immer den Hund ab, und wenn sie mir den Hund als »wahr« zubilligte, stritt sie ab, daß er gegen das CDU-Plakat gepinkelt hätte. Sie sagte, ich hätte so sehr unter dem Einfluß ihres Vaters gestanden, daß ich, ohne mir einer Lüge oder Verfälschung der Wahrheit bewußt zu sein, behaupten würde, der Hund habe seine »Schweinerei« an das CDU-Plakat gemacht, auch wenn es das SPD-Plakat gewesen wäre. Dabei hatte ihr Vater die SPD viel mehr verachtet als die CDU — und was ich gesehen hatte, hatte ich gesehen.