Er rechnete, räusperte sich, und sagte: »Aber ich wollte Ihnen fünfzig Mark geben.«
»Gut«, sagte ich, »dann fahren Sie mit der Straßenbahn, dann wird das ganze billiger für Sie als fünfzig Mark. Einverstanden?«
Er rechnete wieder und sagte: »Könnten Sie nicht das Gepäck im Taxi mitnehmen?«
»Nein«, sagte ich, »ich habe mich verletzt und kann mich nicht damit abgeben.« Offenbar fing sein christliches Gewissen an, sich heftig zu regen. »Herr Schnier«, sagte er milde, »es tut mir leid, daß ich...« »Schon gut, Herr Kostert«, sagte ich, »ich bin ja so glücklich, daß ich der christlichen Sache vier- bis sechsundfünfzig Mark ersparen kann.« Ich drückte auf die Gabel und legte den Hörer neben den Apparat. Es war der Typ, der noch einmal angerufen und sich auf eine langwierige Art ausgeschleimt hätte. Es war viel besser, ihn ganz allein in seinem Gewissen herumpopeln zu lassen. Mir war elend. Ich vergaß zu erwähnen, daß ich nicht nur mit Melancholie und Kopfschmerz, noch mit einer anderen, fast mystischen Eigenschaft begabt bin: ich kann durchs Telefon Gerüche wahrnehmen, und Kostert roch süßlich nach Veilchenpastillen. Ich mußte aufstehen und mir die Zähne putzen. Ich gurgelte mit einem Rest Schnaps nach, schminkte mich mühsam ab, legte mich wieder ins Bett und dachte an Marie, an die Christen, an die Katholiken und schob die Zukunft vor mir her. Ich dachte auch an die Gossen, in denen ich einmal liegen würde. Für einen Clown gibt es, wenn er sich den fünfzig nähert, nur zwei Möglichkeiten: Gosse oder Schloß. Ich glaubte nicht an das Schloß und hatte bis fünfzig noch mehr als zweiundzwanzig Jahre irgendwie hinter mich zu bringen. Die Tatsache, daß Koblenz und Mainz abgesagt hatten, war das, was Zohnerer als »Alarmstufe 1« bezeichnen würde, aber es kam auch einer weiteren Eigenschaft, die zu erwähnen ich vergaß, entgegen: meiner Indolenz. Auch Bonn hatte Gossen, und wer schrieb mir vor, bis fünfzig zu warten?
Ich dachte an Marie: an ihre Stimme und ihre Brust, ihre Hände und ihr Haar, an ihre Bewegungen und an alles, was wir miteinander getan hatten. Auch an Züpfner, den sie heiraten wollte. Wir hatten uns als Jungen ganz gut gekannt, so gut, daß wir, als wir uns als Männer wiedertrafen, nicht recht wußten, ob wir du oder Sie zueinander sagen sollten, beide Anreden setzten uns in Verlegenheit, und wir kamen, sooft wir uns sahen, aus dieser Verlegenheit nicht raus. Ich verstand nicht, daß Marie ausgerechnet zu ihm übergelaufen war, aber vielleicht hatte ich Marie nie »verstanden«. Ich wurde wütend, als ich ausgerechnet durch Kostert aus meinem Nachdenken geweckt wurde. Er kratzte an der Tür wie ein Hund und sagte: »Herr Schnier, Sie müssen mich anhören. Brauchen Sie einen Arzt?« »Lassen Sie mich in Frieden«, rief ich, »schieben Sie den Briefumschlag unter der Tür durch und gehen Sie nach Hause.«
Er schob den Briefumschlag unter die Tür, ich stand auf, hob ihn auf und öffnete ihn: es war eine Fahrkarte zweiter Klasse von Bochum nach Bonn drin und das Taxigeld war genau abgezählt: Sechs Mark und fünfzig Pfennig. Ich hatte gehofft, er würde es auf zehn Mark aufrunden, und mir schon ausgerechnet, wieviel ich herausschlagen würde, wenn ich die Fahrkarte erster Klasse mit Verlust zurückgab und eine zweiter Klasse kaufte. Es wären ungefähr fünf Mark gewesen. »Alles in Ordnung?« rief er von draußen. »Ja«, sagte ich, »machen Sie, daß Sie weg kommen, Sie mieser christlicher Vogel.« – »Aber erlauben Sie mal«, sagte er, ich brüllte: »Weg«. Es blieb einen Augenblick still, dann hörte ich ihn die Treppe hinuntergehen. Die Kinder dieser Welt sind nicht nur klüger, sie sind auch menschlicher und großzügiger als die Kinder des Lichts. Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Bahnhof, um etwas Geld für Schnaps und Zigaretten zu sparen. Die Wirtin rechnete mir noch die Gebühren für ein Telegramm an, das ich abends nach Bonn an Monika Silvs aufgegeben, das Kostert zu bezahlen sich geweigert hatte. So hätte mein Geld für ein Taxi bis zum Bahnhof doch nicht gereicht; das Telegramm hatte ich schon aufgegeben, bevor ich erfuhr, daß Koblenz abgesagt hatte: Die waren meiner Absage zuvorgekommen, und das wurmte mich ein bißchen. Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich hätte absagen können, telegrafisch »Auftritt wegen schwerer Knieverletzung unmöglich.« Nun, wenigstens war das Telegramm an Monika fort »Bitte bereiten Sie Wohnung für morgen vor. Herzliche Grüße Hans.«
2
In Bonn verlief immer alles anders; dort bin ich nie aufgetreten, dort wohne ich, und das herangewinkte Taxi brachte mich nie in ein Hotel, sondern in meine Wohnung. Ich müßte sagen: uns, Marie und mich. Kein Pförtner im Haus, den ich mit einem Bahnbeamten verwechseln könnte, und doch ist diese Wohnung, in der ich nur drei bis vier Wochen im Jahr verbringe, mir fremder als jedes Hotel.
Ich mußte mich zurückhalten, um vor dem Bahnhof in Bonn nicht ein Taxi heranzuwinken: diese Geste war so gut einstudiert, daß sie mich fast in Verlegenheit gebracht hätte. Ich hatte noch eine einzige Mark in der Tasche. Ich blieb auf der Freitreppe stehen und vergewisserte mich meiner Schlüssel: zur Haustür, zur Wohnungstür, zum Schreibtisch; im Schreibtisch würde ich finden: die Fahrradschlüssel. Schon lange denke ich an eine Schlüsselpantomime: Ich denke an ein ganzes Bündel von Schlüsseln aus Eis, die während der Nummer dahinschmelzen.
Kein Geld für ein Taxi; und ich hätte zum ersten Mal im Leben wirklich eins gebraucht: mein Knie war geschwollen, und ich humpelte mühsam quer über den Bahnhofsvorplatz in die Poststraße hinein; zwei Minuten nur vom Bahnhof bis zu unserer Wohnung, sie kamen mir endlos vor. Ich lehnte mich gegen einen Zigarettenautomaten und warf einen Blick auf das Haus, in dem meim Großvater mir eine Wohnung geschenkt hat; elegant ineinandergeschachtelte Appartements mit dezent getönten Balkon-Verkleidungen; fünf Stockwerke fünf verschiedene Farbtöne für die Balkonverkleidungen; im fünften Stock, wo alle Verkleidungen rostfarben sind, wohne ich.
War es eine Nummer, die ich vorführte? den Schlüssel ins Haustürschloß stecken, ohne Erstaunen hinnehmen, daß er nicht schmolz, die Aufzugtür öffnen, auf die Fünf drücken: ein sanftes Geräusch trug mich nach oben; durchs schmale Aufzugfenster in den jeweiligen Flurabschnitt, über diesen hinweg durchs jeweilige Flurfenster blicken: ein Denkmalrücken, der Platz, die Kirche, angestrahlt; schwarzer Schnitt, die Betondecke und wieder, in leicht verschobener Optik: der Rücken, Platz, Kirche, angestrahlt: dreimal, beim vierten Mal nur noch Platz und Kirche. Etagentürschlüssel ins Schloß stecken, ohne Erstaunen hinnehmen, daß auch die sich öffnete.
Alles rostfarben in meiner Wohnung: Türen, Verkleidungen, eingebaute Schränke; eine Frau im rostroten Morgenmantel auf der schwarzen Couch hätte gut gepaßt; wahrscheinlich wäre eine solche zu haben, nur: ich leide nicht nur an Melancholie, Kopfschmerzen, Indolenz und der mystischen Fähigkeit, durchs Telefon Gerüche wahrzunehmen, mein fürchterlichstes Leiden ist die Anlage zur Monogamie; es gibt nur eine Frau, mit der ich alles tun kann, was Männer mit Frauen tun: Marie, und seitdem sie von mir weggegangen ist, lebe ich wie ein Mönch leben sollte; nur: ich bin kein Mönch. Ich hatte mir überlegt, ob ich aufs Land fahren und in meiner alten Schule einen der Patres um Rat fragen sollte, aber alle diese Burschen halten den Menschen für ein polygames Wesen (aus diesem Grund verteidigen sie so heftig die Einehe), ich muß ihnen wie ein Monstrum vorkommen, und ihr Rat wird nichts weiter sein als ein versteckter Hinweis auf die Gefilde, in denen, wie sie glauben, die Liebe käuflich ist. Bei Christen bin ich noch auf Überraschungen gefaßt, wie bei Kostert etwa, dem es tatsächlich gelang, mich in Erstaunen zu versetzen, aber bei Katholiken überrascht mich nichts mehr. Ich habe dem Katholizismus große Sympathien entgegengebracht, sogar noch, als Marie mich vor vier Jahren zum ersten Mal mit in diesen »Kreis fortschrittlicher Katholiken« nahm; es lag ihr daran, mir intelligente Katholiken vorzuführen, und natürlich hatte sie den Hintergedanken, ich könnte eines Tages konvertieren (diesen Hintergedanken haben alle Katholiken). Schon die ersten Augenblicke in diesem Kreis waren fürchterlich. Ich war damals in einer sehr schwierigen Phase meiner Entwicklung als Clown, noch keine zweiundzwanzig alt, und trainierte den ganzen Tag. Ich hatte mich auf diesen Abend sehr gefreut, war todmüde und erwartete eine Art fröhlicher Zusammenkunft, mit viel gutem Wein, gutem Essen, vielleicht Tanz (es ging uns dreckig, und wir konnten uns weder Wein noch gutes Essen leisten); statt dessen gab es schlechten Wein, und es wurde ungefähr so, wie ich mir ein Oberseminar für Soziologie bei einem langweiligen Professor vorstelle. Nicht nur anstrengend, sondern auf eine überflüssige und unnatürliche Weise anstrengend. Zuerst beteten sie miteinander, und ich wußte die ganze Zeit über nicht, wohin mit meinen Händen und meinem Gesicht; ich denke, in eine solche Situation sollte man einen Ungläubigen nicht bringen. Sie beteten auch nicht einfach ein Vater Unser oder ein Ave Maria (das wäre schon peinlich genug gewesen, protestantisch erzogen, bin ich bedient mit jeglicher Art privater Beterei), nein, es war irgendein von Kinkel verfaßter Text, sehr programmatisch »und bitten wir Dich, uns zu befähigen, dem Überkommenen wie dem Fortschreitenden in gleicher Weise gerecht zu werden« und so weiter, und dann erst ging man zum »Thema des Abends« über »Armut in der Gesellschaft, in der wir leben«. Es wurde einer der peinlichsten Abende meines Lebens. Ich kann einfach nicht glauben, daß religiöse Gespräche so anstrengend sein müssen. Ich weiß: an diese Religion zu glauben ist schwer. Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Oft hatte Marie mir aus der Bibel vorgelesen. Es muß schwer sein, das alles zu glauben. Ich habe später sogar Kierkegaard gelesen (eine nützliche Lektüre für einen werdenden Clown), es war schwer, aber nicht anstrengend. Ich weiß nicht, ob es Leute gibt, die sich nach Picasso oder Klee Tischdeckchen sticken. Mir kam es an diesem Abend so vor, als häkelten sich diese fortschrittlichen Katholiken aus Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Bonaventura und Leo XIII. Lendenschürze zurecht, die natürlich ihre Blöße nicht deckten, denn es war keiner anwesend (außer mir), der nicht mindestens seine fünfzehnhundert Mark im Monat verdiente. Es war ihnen selbst so peinlich, daß sie später zynisch und snobistisch wurden, außer Züpfner, den die ganze Geschichte so quälte, daß er mich um eine Zigarette bat. Es war die erste Zigarette seines Lebens, und er paffte sie unbeholfen vor sich hin, ich merkte ihm an, er war froh, daß der Qualm sein Gesicht verhüllte. Mir war elend, Maries wegen, die blaß und zitternd da saß, als Kinkel die Anekdote von dem Mann erzählte, der fünfhundert Mark im Monat verdiente, sich gut damit einzurichten verstand, dann tausend verdiente und merkte, daß es schwieriger wurde, der geradezu in große Schwierigkeiten geriet, als er zweitausend verdiente, schließlich, als er dreitausend erreicht hatte, merkte, daß er wieder ganz gut zurechtkam, und seine Erfahrungen zu der Weisheit formulierte: »Bis fünfhundert im Monat gehts ganz gut, aber zwischen fünfhundert und dreitausend das nackte Elend.« Kinkel merkte nicht einmal, was er anrichtete: er quatschte, seine dicke Zigarre rauchend, das Weinglas an den Mund hebend, Käsestangen fressend, mit einer olympischen Heiterkeit vor sich hin, bis sogar Prälat Sommerwild, der. geistliche Berater des Kreises, anfing, unruhig zu werden, und ihn auf ein anderes Thema brachte. Ich glaube, er brachte das Stichwort Reaktion auf und hatte damit Kinkel an der Angel. Der biß sofort an, wurde wütend und hörte mitten in seinem Vortrag darüber, daß ein Auto für zwölftausend Mark billiger sei als eins für viertausendfünfhundert, auf, und sogar seine Frau, die ihn in peinlicher Kritiklosigkeit anhimmelt, atmete auf.