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»Ich bin kein Mann«, wimmerte sie, ich ließ sie los; sie stellte sich mit dem Gesicht zum Herd, murmelte etwas von Sünde und Schande, Sodom und Gomorrha, und ich sagte: »Anna, mein Gott, denk doch dran, was die in Sodom und Gomorrha wirklich gemacht haben.« Sie schüttelte meine Hand von ihrer Schulter, ich ging aus der Küche, ohne ihr zu sagen, daß ich von zu Haus wegwollte. Sie war die einzige, mit der ich manchmal über Henriette sprach.

Leo stand schon draußen vor der Garage und blickte ängstlich auf seine Armbanduhr. »Hat Mutter gemerkt, daß ich weg war?« fragte ich. Er sagte »Nein«, gab mir die Schlüssel und hielt das Tor auf. Ich stieg in Mutters Auto, fuhr raus und ließ Leo einsteigen. Er blickte angestrengt auf seine Fingernägel. »Ich habe das Sparbuch«, sagte er, »ich hole das Geld in der Pause. Wohin soll ichs schicken?« — »Schicks an den alten Derkum«, sagte ich. »Bitte«, sagte er, »fahr los, es ist Zeit.« Ich fuhr schnell, über unseren Gartenweg, durch die Ausfahrt und mußte draußen an der Haltestelle warten, an der Henriette eingestiegen war, als sie zur Flak fuhr. Es stiegen ein paar Mädchen in Henriettes Alter in die Straßenbahn. Als wir die Bahn überholten, sah ich noch mehr Mädchen in Henriettes Alter, lachend, wie sie gelacht hatte, mit blauen Mützen auf dem Kopf und Mänteln mit Pelzkragen. Wenn ein Krieg käme, würden ihre Eltern sie genauso wegschicken, wie meine Eltern Henriette weggeschickt hatten, sie würden ihnen Taschengeld zustecken, ein paar belegte Brote, ihnen auf die Schulter klopfen und sagen »Mach's gut«. Ich hätte den Mädchen gern zugewinkt, ließ es aber. Es wird alles mißverstanden. Wenn man in einem so dummen Auto fährt, kann man nicht einmal einem Mädchen winken. Ich hatte einmal einem Jungen im Hofgarten eine halbe Tafel Schokolade geschenkt und ihm die blonden Haare aus der schmutzigen Stirn gestrichen; er weinte und hatte sich die Tränen durchs Gesicht auf die Stirn geschmiert, ich wollte ihn nur trösten. Es gab einen fürchterlichen Auftritt mit zwei Frauen, die fast die Polizei gerufen hätten, und ich fühlte mich nach der Keiferei wirklich wie ein Unhold, weil eine der Frauen immer zu mir sagte: »Sie schmutziger Kerl, Sie schmutziger Kerl.« Es war scheußlich, der Auftritt kam mir so pervers vor, wie ein wirklicher Unhold mir vorkommt.

Während ich die Koblenzer Straße runterfuhr, viel zu schnell, schaute ich nach einem Ministerauto aus, das ich hätte schrammen können. Mutters Auto hat vorstehende Radnaben, mit denen ich ein Auto hätte ankratzen können, aber so früh war noch kein Minister unterwegs. Ich sagte zu Leo: »Wie ist es nun, gehst du wirklich zum Militär?« Er wurde rot und nickte. »Wir haben darüber gesprochen«, sagte er, »im Arbeitskreis, und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß es der Demokratie dient.« — »Na gut«, sagte ich, »geh nur hin und mach diese Idiotie mit, ich bedaure manchmal, daß ich nicht wehrpflichtig bin.« Leo drehte sich mir fragend zu, wandte aber den Kopf weg, als ich ihn ansehen wollte. »Warum?« fragte er. »Oh«, sagte ich, »ich würde so gern den Major einmal wiedersehen, der bei uns einquartiert war und Frau Wieneken erschießen lassen wollte. Er ist jetzt sicher Oberst oder General.« Ich hielt vor dem Beethovengymnasium, um ihn rauszulassen, er schüttelte den Kopf, sagte: »Park doch hinten rechts vom Konvikt«, ich fuhr weiter, hielt, gab Leo die Hand, aber er lächelte gequält, hielt mir weiter die offene Hand hin. Ich war in Gedanken schon weg, verstand nicht, und es machte mich nervös, wie Leo dauernd ängstlich auf seine Armbanduhr blickte. Es war erst fünf vor acht, und er hatte noch reichlich Zeit. »Du willst doch nicht wirklich zum Militär gehn«, sagte ich. »Warum nicht«, sagte er böse, »gib mir den Autoschlüssel.« Ich gab ihm den Autoschlüssel, nickte ihm zu und ging. Ich dachte die ganze Zeit an Henriette und fand es Wahnsinn, daß Leo Soldat werden wollte. Ich ging durch den Hofgarten, unter der Universität her zum Markt. Mir war kalt, und ich wollte zu Marie.

Der Laden war voller Kinder, als ich dort ankam. Die Kinder nahmen Bonbons, Griffel, Radiergummi aus den Regalen und legten dem alten Derkum das Geld auf die Theke. Als ich mich durch den Laden ins Hinterzimmer zwängte, blickte er nicht auf. Ich ging zum Herd, wärmte meine Hände an der Kaffeekanne und dachte, Marie würde jeden Augenblick kommen. Ich hatte keine Zigaretten mehr, und ich überlegte, ob ich sie so nehmen oder bezahlen sollte, wenn ich Marie darum bat. Ich goß mir aus der Kanne Kaffee ein, und mir fiel auf, daß drei Tassen auf dem Tisch standen. Als es im Laden still wurde, setzte ich meine Tasse ab. Ich wünschte, Marie wäre bei mir gewesen. Ich wusch mir am Spülbecken neben dem Herd Gesicht und Hände, kämmte mich mit der Nagelbürste,, die in der Seifenschale lag, ich zog meinen Hemdkragen glatt, die Krawatte hoch und prüfte noch einmal meine Fingernägel: sie waren sauber. Ich wußte plötzlich, daß ich das alles tun mußte, was ich sonst nie tat.

Als ihr Vater hereinkam, hatte ich mich gerade gesetzt, ich stand sofort auf. Er war so verlegen wie ich, auch so schüchtern, er sah nicht böse aus, nur sehr ernst, und als er die Hand zur Kaffeekanne ausstreckte, zuckte ich zusammen, nicht viel, aber merklich. Er schüttelte den Kopf, goß sich ein, hielt mir die Kanne hin, ich sagte danke, er sah mich immer noch nicht an. In der Nacht oben in Maries Bett, als ich über alles nachdachte, hatte ich mich sehr sicher gefühlt. Ich hätte gern eine Zigarette gehabt, aber ich wagte nicht, mir eine aus seiner Schachtel zu nehmen, die auf dem Tisch lag. Jederzeit sonst hätte ich es getan. Wie er da stand, über den Tisch gebeugt, mit der großen Glatze und dem grauen, unordentlichen Haarkranz, kam er mir sehr alt vor. Ich sagte leise: »Herr Derkum, Sie haben ein Recht«, aber er schlug mit der Hand auf den Tisch, sah mich endlich an, über seine Brille hinweg, und sagte: »Verflucht, mußte das sein — und gleich so, daß die ganze Nachbarschaft dran teilhat?« Ich war froh, daß er nicht enttäuscht war und von Ehre anfing. »Mußte das wirklich sein — du weißt doch, wie wir uns krumm gelegt haben für diese verfluchte Prüfung, und jetzt«, er schloß die Hand, öffnete sie, als wenn er einen Vogel frei ließe, »nichts.« — »Wo ist Marie?« fragte ich. »Weg«, sagte er, »nach Köln gefahren.« — »Wo ist sie?« rief ich, «wo?« — »Nur die Ruhe«, sagte er, »das wirst du schon erfahren. Ich nehme an, daß du jetzt von Liebe, Heirat und so weiter anfangen willst — spar dir das — los, geh. Ich bin gespannt, was aus dir wird. Geh.« Ich hatte Angst, an ihm vorbeizugehen. Ich sagte: »Und die Adresse?« — »Hier«, sagte er und schob mir einen Zettel über den Tisch. Ich steckte den Zettel ein. »Sonst noch was«, schrie er, »sonst noch was? Worauf wartest du noch?« — »Ich brauche Geld«, sagte ich, und ich war froh, daß er plötzlich lachte, es war ein merkwürdiges Lachen, hart und böse, wie ich es erst einmal von ihm gehört hatte, als wir über meinen Vater sprachen. »Geld«, sagte er, »das ist ein Witz, aber komm«, sagte er, »komm«, und er zog mich am Ärmel in den Laden, trat hinter die Theke, riß die Kasse auf und warf mir mit beiden Händen Kleingeld hin: Groschen, Fünfer und Pfennige, er streute die Münzen über die Hefte und Zeitungen, ich zögerte, fing dann langsam an, die Münzen einzusammeln, ich war versucht, sie mir in die offene Hand zu streichen, nahm sie aber dann einzeln auf, zählte sie und steckte sie markweise in die Tasche. Er sah mir dabei zu, nickte, zog sein Portemonnaie und legte mir ein Fünfmarkstück hin. Wir wurden beide rot. »Entschuldige«, sagte er leise, »entschuldige, o Gott — entschuldige.«Er dachte, ich wäre beleidigt, aber ich verstand ihn sehr gut. Ich sagte: »Schenken Sie mir noch eine Schachtel Zigaretten«, und er griff sofort hinter sich ins Regal und gab mir zwei Schachteln. Er weinte. Ich beugte mich über die Theke und küßte ihn auf die Wange. Er ist der einzige Mann, den ich je geküßt habe.

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