„Da!" sagte die alte Frau. Sie hieß Lucie Löwe und verkaufte schwarz Ausschuß-Strümpfe und kittete zerbrochenes Porzellan.
Die Concierge öffnete ein Schächtelchen. Auf rosa Watte gebettet, enthielt es eine kleine Kette und einen Ring mit einem kleinen Stein.
„Gold?" fragte die dicke Frau. „Sicher nur vergoldet!"
„Gold", sagte Lachmann.
„Wenn es Gold wäre, hätte sie ihn verkauft", erklärte die Concierge, „bevor sie das da getan hätte."
„Man tut das da nicht immer nur aus Hunger", erwiderte Lachmann ruhig. „Das ist Gold. Und der kleine Stein ist ein Rubin. Wert mindestens sieben bis achthundert Francs."
„Unsinn!"
„Wenn Sie wollen, kann ich ihn für Sie verkaufen."
„Und mich dabei reinlegen, was? Nein, mein Lieber, nicht mich!"
Sie mußte die Polizei rufen. Das war nicht zu vermeiden. Die Emigranten, die im Hause wohnten, verschwanden in dieser Zeit. Die meisten gingen auf ihre Tour — zu den Konsulaten oder um etwas zu verkaufen oder Arbeit zu finden —, die andern in die nächste Kirche, um dort auf Nachrichten von einem von ihnen zu warten, der an der Straßenecke als Beobachtungsposten zurückgelassen wurde. Kirchen waren sicher.
Es wurde gerade eine Messe zelebriert. In den Seitengängen hockten Frauen wie dunkle kleine Hügel in schwarzen Kleidern vor den Beichtstühlen. Die Kerzen brannten ohne Regung, eine Orgel brauste, und das Licht schimmerte auf dem goldenen Kelch, den der Priester hob und in dem das Blut Christi war, der die Weh damit erlöst hatte. Zu was hatte es geführt? Zu blutigen Kreuzzügen, religiösem Fanatismus, den Foltern der Inquisition, Hexenverbrennungen und Ketzermorden — alles im Namen der Nächstenliebe.
„Wollen wir nicht zum Bahnhof gehen?" fragte ich Helen. „Es ist wärmer im Wartesaal als hier in der Kirche."
„Warte noch einen Augenblick." Sie ging zu einer Bank unter der Kanzel und kniete dort nieder. Ich weiß nicht, ob sie betete und zu wem, ich dachte nur plötzlich an den Tag, als ich im Dom von Osnabrück auf sie wartete. Damals hatte ich einen Menschen wiedergefunden, den ich nicht gekannt hatte und der mir von Tag zu Tag fremder und vertrauter geworden war. Jetzt war es wieder so, aber sie entglitt mir, ich fühlte das, in einen Bezirk, der keine Namen mehr kannte, nur Dunkelheit und vielleicht unbekannte Gesetze der Dunkelheit —- sie wollte es nicht, und sie kam zurück, aber sie gehörte nicht mehr so zu mir, wie ich es glauben wollte, sie hatte vielleicht nie so zu mir gehört; wer gehört schon zu wem, und was ist das: Zusammengehören, dieses bürgerliche Wort hoffnungsloser Illusion? Aber immer wieder, wenn sie zurückkehrte, wie sie es nannte, für eine Stunde, für einen Blick, für eine Nacht, kam ich mir vor wie ein Buchhalter, der nicht rechnen soll, sondern ohne Frage hinnehmen, was eine Schweifende, Unglückliche, Geliebte, Verdammte ihm ist! Ich weiß, es gibt andere Namen dafür, billige, rasche und abfällige — aber die mögen für andere Verhältnisse sein und für Menschen, die glauben, daß ihre egoistischen Gesetze Votivtafeln Gottes sind. Einsamkeit sucht Gefährten und fragt nicht, wer es ist. Wer das nicht weiß, war nie einsam, sondern nur allein.
„Worum hast du gebetet?" fragte ich und bereute es sofort.
Sie sah mich mit einem sonderbaren Blick an. „Um das Visum nach Amerika", erwiderte sie dann, und ich wußte, daß sie log. Eine Sekunde dachte ich, daß sie um das Gegenteil gebetet hätte; denn immer wieder fühlte ich den passiven Widerstand, den sie der Reise entgegensetzte. „Amerika?" hatte sie einmal nachts gesagt. „Was willst du da? Wozu so weit weglaufen? In Amerika wird es wieder ein anderes Amerika sein, wohin du mußt, und dann wieder eine neue Fremde, siehst du das nicht?" Sie wollte nichts Neues mehr. Sie glaubte an nichts mehr. Der Tod, der in ihr fraß, wollte nicht mehr weglaufen. Er regierte sie wie ein Vivisektor, der beobachtet, was geschieht, wenn man ein Organ und noch eines und eine Zelle und noch eine verändert und zerstört. Die Krankheit spielte ein grauenhaftes Maskenspiel mit ihr, so wie wir ein harmloses im Schloß mit Kostümen gespielt hatten, und manchmal sah mich mit flackernden Augen aus einem schmalen Schädel ein Mensch an, der mich haßte, manchmal einer, der trostlos ergeben war, manchmal ein entsetzlich tapferer Spieler, manchmal eine Frau, die nichts als Hunger und Verzweiflung war, aber dann immer wieder ein Mensch, der nur mich noch hatte, um aus dem Dunkel zurückzukehren, und der dankbar dafür war in seinem angstvollen und furchtlosen Schauder vor dem Erlöschen.
Der Spion kam und meldete, daß die Polizei fort sei.
„Wir hätten ins Museum gehen sollen", erklärte Lachmann „da ist gebeizt."
„Gibt es eins hier?" fragte eine bucklige junge Frau, deren Mann von den Gendarmen gefaßt worden war und die seit sechs Wochen auf ihn wartete.
„Natürlich."
Ich mußte an den toten Schwarz denken. „Wollen wir hingehen?" fragte ich Helen.
„Nicht jetzt. Laß uns zurückgehen." Ich wollte nicht, daß sie die Tote noch einmal sähe; aber sie ließ sich nicht abhalten. Als wir zurückkamen, hatte sich die Concierge beruhigt. Vielleicht hatte sie auch die Kette und den Ring schätzen lassen. „Die arme Frau", sagte sie. „Jetzt hat sie nicht einmal einen Namen."
„Hatte sie gar keine Papiere?" „Sie hatte ein Saufconduit. Das haben die andern genommen, bevor die Polizei kam, und Streichhölzer gezogen, wer es bekommen sollte. Die Kleine mit den roten Haaren hat es gewonnen."
„Ach so, natürlich; die hat ja gar keine Papiere. Es war der Toten sicher recht." „Wollen Sie sie sehen?" „Nein", sagte ich. „Ja", sagte Helen.
Ich ging mit ihr. Die Tote war völlig ausgeblutet. Als wir heraufkamen, waren zwei Emigrantinnen dabei, sie zu waschen. Sie drehten sie gerade um wie ein weißes Brett. Die Haare hingen zu Boden. „Raus!" zischte eine mir zu.
Ich ging. Helen blieb. Nach einiger Zeit kam ich zurück, um sie zu holen. Sie stand allein in der schmalen Kammer am Fußende des Bettes und starrte auf das weiße, eingefallene Gesicht, in dem ein Auge nicht ganz geschlossen war. „Komm jetzt", sagte ich.
„So sieht man dann aus", flüsterte sie. „Wo wird sie begraben?
„Ich weiß es nicht. Da, wo die Armen begraben werden. Wenn es etwas kostet, wird die Concierge schon dafür sammeln."
Helen erwiderte nichts. Die kalte Luft wehte durch das offene Fenster. „Wann wird sie begraben?" fragte sie.
„Morgen oder übermorgen. Vielleicht wird sie auch abgeholt zu einer Obduktion."
„Warum! Glaubt man nicht, daß sie sich getötet hat?"
„Das wird man schon glauben."
Die Concierge kam herauf. „Sie wird morgen abgeholt für eine Klinik zur Autopsie. Die jungen Ärzte lernen operieren an solchen Leichen. Ihr kann's ja gleich sein, und es kostet so nichts. Wollen Sie eine Tasse Kaffee?"
„Nein", sagte Helen.
„Ich brauche eine", erwiderte die Concierge. „Sonderbar, wie es einen aufregt, was? Dabei müssen wir doch alle sterben."
„Ja", sagte Helen. „Aber keiner will es glauben."
Nachts erwachte ich. Sie saß im Bett und schien zu horchen. „Riechst du es auch?" fragte sie. „Was?"
„Die Tote. Man riecht sie. Schließ das Fenster." „Man riecht nichts, Helen. Das geht nicht so schnell."
„Man riecht es."
„Es sind vielleicht die Zweige." Die Emigranten hatten gesammelt und ein paar Lorbeerzweige und eine Kerze zu der Toten hineingestellt.
„Wozu haben sie die Zweige hineingestellt? Sie wird morgen zerstückelt, und dann werfen sie die Stücke in einen Eimer und verkaufen sie als Abfallfleisch für Tiere."
„Sie verkaufen sie nicht. Sie lassen die autopsierte Leiche verbrennen oder begraben", erklärte ich und legte den Arm um Helen. Sie wich mir aus. „Ich will nicht zerstückelt werden", sagte sie.
„Warum solltest du denn zerstückelt werden?" „Versprich mir das", sagte sie, ohne mich zu hören. „Das kann ich dir leicht versprechen." „Schließ das Fenster. Ich rieche es wieder." Ich stand auf und schloß das Fenster. Draußen stand ein heller Mond, und die Katze hockte neben dem Fenster. Sie fauchte und sprang weg, als der Flügel des Fensters sie streifte. „Was war das?" fragte Helen hinter mir. „Die Katze."