„Helen", sagte ich zu ihr. „Was bedeutet dies alles? Du bist krank. Warum willst du nicht mit mir darüber sprechen?"
„Quäle mich nicht", erwiderte sie sehr matt. „Laß mich so leben, wie ich es will."
„Willst du nicht mit mir darüber sprechen?"
Sie schüttelte den Kopf. „Es ist nichts zu sprechen."
„Ich kann dir nicht helfen?"
„Nein, Liebster", erwiderte sie. „Diesmal kannst du mir nicht helfen. Wenn du es könntest, würde ich es dir sagen."
„Ich habe noch den letzten Degas. Ich kann ihn hier verkaufen. Es gibt reiche Leute in Biarritz. Wir bekommen genug Geld dafür, um dich in ein Krankenhaus zu bringen."
„Damit man mich einsperrt? Es würde auch nichts nützen. Glaube es mir!"
„Ist es so schlimm?"
Sie sah mich so gehetzt und trostlos an, daß ich nicht weiter fragte. Ich beschloß, später zu Dubois zu gehen und ihn noch einmal zu fragen."
Schwarz schwieg. „Hatte sie Krebs?" fragte ich. Er nickte. „Ich hätte es längst ahnen sollen. Sie war in der Schweiz gewesen, und man hatte ihr damals gesagt, daß man sie noch einmal operieren könne, aber es würde nichts nützen: Sie war bereits vorher operiert worden; das war die Narbe, die ich gesehen hatte. Der Professor hatte ihr dann die Wahrheit gesagt. Sie konnte wählen zwischen ein paar mehr nutzlosen Operationen und einem kurzen Stück Leben ohne Krankenhaus. Er hatte ihr auch erklärt, daß man nicht bestimmt sagen könne, ob das Hospital ihr Leben verlängern würde. Sie hatte sich gegen die Operationen entschieden." „Sie wollte es Ihnen nicht sagen?" „Nein. Sie haßte die Krankheit. Sie versuchte, sie zu ignorieren. Sie fühlte sich beschmutzt, als ob Würmer in ihr herumkröchen. Sie hatte das Gefühl, daß die Krankheit ein qualliges Tier sei, das in ihr lebte und wüchse. Sie glaubte, ich würde mich vor ihr ekeln, wenn ich es wüßte. Vielleicht hoffte sie auch immer noch, sie könne die Krankheit ersticken, indem sie keine Kenntnis davon nähme."
„Haben Sie mit ihr nie darüber gesprochen?" „Kaum", sagte Schwarz. „Sie hat mit Dubois gesprochen, und ich habe Dubois später gezwungen, es mir zu berichten. Von ihm bekam ich dann die Mittel. Er erklärte mir, daß die Schmerzen zunehmen würden; aber es könne auch sein, daß alles rasch und barmherzig ende. Mit Helen sprach ich nicht. Sie wollte nicht. Sie drohte mir, sie werde sich töten, wenn ich ihr keine Ruhe ließe. Ich tat dann so, als glaube ich ihr — als seien es Krämpfe harmloser Natur.
Wir mußten fort aus Biarritz. Wir betrogen uns gegenseitig. Helen beobachtete mich und ich sie, aber bald gewann der Betrug eine seltsame Macht. Er vernichtete zunächst das, was ich am meisten fürchtete: den Begriff der Zeit. Die Einteilung in Wochen und Monate zerfiel, und die Furcht vor der Kürze der Zeit, die wir noch hatten, wurde dadurch durchsichtig wie Glas. Die Angst verdeckte nicht mehr; sie schützte eher unsere Tage. Alles, was stören konnte, prallte an ihr ab; es kam nicht mehr hinein. Ich hatte meine Verzweiflungsanfälle, wenn Helen schlief. Dann starrte ich auf ihr Gesicht, das leise atmete, und auf meine gesunden Hände und begriff die entsetzliche Verlassenheit, die unsere Haut uns auferlegt, die Trennung, die nie zu überbrücken ist. Nichts von meinem gesunden Blut konnte das geliebte kranke Blut retten. Das ist nicht zu verstehen, und der Tod ist nicht zu verstehen.
Der Augenblick wurde alles. Morgen lag in endloser Ferne. Wenn Helen erwachte, begann der Tag, und wenn sie schlief, und ich fühlte sie neben mir, begann das Oszillieren von Hoffnung und Trostlosigkeit, von Plänen, die auf Traummauern gebaut waren, von pragmatischen Wundern und einer Philosophie des Noch-Habens und Augenschließens, die im frühen Licht erlosch und im Nebel ertrank.
Es wurde kalt. Ich trug den Degas bei mir, der das Fahrgeld nach Amerika darstellte, und hätte ihn gern jetzt verkauft; aber in den kleinen Städten und Dörfern gab es niemand, der etwas dafür bezahlen wollte. An manchen Plätzen arbeiteten wir. Ich lernte Feldarbeit. Ich hackte und grub; ich wollte etwas tun. Wir waren nicht die einzigen. Ich sah Professoren Holz sägen und Opernsänger Rüben hacken. Die Bauern waren, wie Bauern sind; sie nützten die Gelegenheit aus, billige Arbeiter zu finden. Manche zahlten etwas; andere gaben Essen und erlaubten einem, nachts irgendwo zu schlafen. Und manche jagten die Bittenden fort. So wanderten und fuhren wir auf Marseille zu. Waren Sie in Marseille?" „Wer war nicht da?" sagte ich. „Es war der Jagdplatz der Gendarmen und der Gestapo. Sie fingen die Emigranten vor den Konsulaten ab wie Hasen."
„Sie fingen uns auch beinahe", erwiderte Schwarz. „Dabei tat der Präfekt im Service Etrangers von Marseille alles, um Emigranten zu retten. Ich war immer noch besessen davon, ein amerikanisches Visum zu bekommen. Es schien mir, als könne es selbst den Krebs zum Stillstand bringen. Sie wissen, daß kein Visum erteilt wurde, wenn nicht nachgewiesen werden konnte, daß man sehr gefährdet sei, oder wenn man nicht in Amerika auf eine Liste bekannter Künstler, Wissenschaftler oder Intellektueller gesetzt wurde. Als ob wir nicht alle gefährdet gewesen wären — und als ob Mensch nicht Mensch wäre! Ist der Unterschied zwischen wertvollen und gewöhnlichen Menschen nicht eine ferne Parallele zu den Übermenschen und den Untermenschen?" „Sie können nicht alle nehmen", erwiderte ich. „Nein?" fragte Schwarz.
Ich antwortete nicht. Was war da zu antworten? Ja und Nein waren dasselbe.
„Warum dann nicht die Verlassensten?" fragte Schwarz. „Die ohne Namen und ohne Verdienst?"
Ich antwortete wieder nicht. Schwarz hatte zwei amerikanische Visa — was wollte er? Wußte er denn nicht, daß Amerika jedem ein Visum gab, für den jemand drüben bürgte, daß er dem Staat nicht zur Last fallen würde?
Er sagte es im nächsten Augenblick. „Ich kenne niemand drüben; aber jemand gab mir eine Adresse in New York. Ich schrieb hin; ich schrieb auch noch an andere. Ich schilderte unsere Lage. Dann sagte mir ein Bekannter, daß ich es falsch gemacht habe; Kranke würden nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen. Unheilbar Kranke schon gar nicht. Ich müsse Helen als gesund ausgeben. Helen hatte einen Teil der Unterhaltung mit angehört. Es war nicht zu vermeiden; niemand sprach über etwas anderes in diesem verstörten Bienenschwarm Marseille.
Wir saßen an diesem Abend in einem Restaurant in der Nähe der Cannebiere. Der Wind fegte durch die Straßen. Ich war nicht entmutigt. Ich hoffte, einen menschlichen Arzt zu finden, der Helen ein Gesundheitsattest geben würde. Wir spielten immer noch dasselbe Spiel: daß wir einander glaubten, daß ich nichts wüßte. Ich hatte an den Präfekten ihres Lagers geschrieben, uns zu bestätigen, daß wir gefährdet seien. Wir hatten ein kleines Zimmer gefunden; ich hatte eine Aufenthaltserlaubnis für eine Woche bekommen und arbeitete nachts schwarz in einem Restaurant als Tellerwäscher; wir hatten etwas Geld, und ein Apotheker hatte mir auf das Rezept von Dubois zehn Ampullen Morphium gegeben — wir besaßen also für den Augenblick alles, was wir brauchten.
Wir saßen am Fenster des Restaurants und sahen auf die Straße. Wir konnten uns diesen Luxus erlauben, weil wir uns eine Woche lang nicht verstecken mußten. Plötzlich erschrak Helen und griff nach meiner Hand. Sie starrte in die wehende Dunkelheit. „Georg!" flüsterte sie.
„Wo?"
„In dem offenen Auto dort. Ich habe ihn erkannt. Er ist gerade vorbeigefahren." „Hast du ihn bestimmt erkannt?" Sie nickte.
Es schien mir fast unmöglich. Ich versuchte, bei mehreren vorbeifahrenden Wagen die Leute, die darin saßen, zu sehen. Es gelang mir nicht; aber das beruhigte mich nicht.
„Warum sollte er gerade in Marseille sein", sagte ich und wußte sofort, daß er, wenn er irgendwo sein würde, natürlich in Marseille wäre — dem letzten Fluchtort der Emigranten aus Frankreich. „Wir müssen fort von hier", sagte ich. „Wohin?" „Nach Spanien."
„Ist Spanien nicht noch gefährlicher?" Es bestanden Gerüchte, daß die Gestapo in Spanien wie zu Hause sei und daß Emigranten verhaftet und ausgeliefert worden seien; aber es gab zahllose Gerüchte in dieser Zeit, und man konnte nicht alle glauben.