„Das brauche ich nicht", erwiderte ich. „Geben Sie die Sachen her!"
Der Wirt nickte dem Schankburschen zu. „Henri, der Herr möchte gehen."
Henri kam mit aufgekrempelten Ärmeln heran. „Ich würde mir das überlegen, Henri", sagte ich zu ihm. „Oder brennen Sie darauf, zu sehen, wie ein deutsches Konzentrationslager von innen aussieht?"
„Ta gueule", erwiderte Henri und hob die Arme nach mir.
„Schießen Sie, Sergeant!" sagte ich scharf und sah an seinem Kopf vorbei.
Henri fiel darauf herein. Er sah sich um, und da er die Arme noch halb erhoben hatte, trat ich ihm mit aller Kraft in seine Geschlechtsteile. Er brüllte auf und ging zu Boden. Der Wirt griff nach einer Flasche und kam um die Theke herum.
Ich nahm eine Flasche Dubonnet, die auf dem Zinkbelag stand, schlug sie gegen eine Ecke und hielt den zackigen Rest in der Hand. Der Wirt blieb stehen. Hinter mir splitterte eine zweite Flasche. Ich sah mich nicht um; ich konnte den Wirt nicht aus den Augen lassen. „Ich bin's", sagte Helen und schrie den Wirt an: „Salaud! Gib die Sachen heraus, oder du hast kein Gesicht mehr!"
Sie kam um mich herum, ihre zerbrochene Flasche in der Hand, und ging gebückt auf den Wirt los. Ich hielt sie mit der freien Hand fest. Sie mußte eine Pernodflasche erwischt haben, denn alles roch plötzlich nach Anis. Ein Strom von Hafenflüchen ergoß sich über den Wirt. Helen zerrte, halb geduckt, an meiner Hand, um loszukommen. Der Wirt trat rasch hinter die Theke zurück.
„Was geht hier vor?" fragte jemand von der Tür her auf deutsch.
Der Wirt begann zu grinsen. Helen wandte sich um. Der deutsche Unteroffizier, den ich vorher für Henri erfunden hatte, stand jetzt wirklich da.
„Ist er verletzt?" fragte der Unteroffizier.
„Das Schwein da?" Helen zeigte auf Henri, der noch immer die Fäuste zwischen die Beine preßte und, die Knie angezogen, auf dem Boden hockte. „Das ist kein Blut! Das ist Dubonnet!"
„Sind Sie Deutsche?" fragte der Unteroffizier.
„Ja", erwiderte ich. „Und wir sind bestohlen worden."
„Haben Sie Papiere?"
Der Wirt grinste; er schien etwas Deutsch zu verstehen.
„Natürlich", fauchte Helen. „Und ich bitte Sie, uns zu unserem Recht zu verhelfen!" Sie hielt ihren Paß hoch. „Ich bin die Schwester des Obersturmbannführers Jürgens. Hier,..", sie zeigte auf das Datum des Passes. „Wir wohnen im Schloß — " sie nannte einen Namen, den ich nie gehört hatte — , und sind auf einen Tag nach Bordeaux gefahren. Unsere Sachen haben wir hiergelassen, bei diesem Dieb. Jetzt behauptet er, er hätte sie nie bekommen. Helfen Sie uns, bitte!"
Sie fuhr wieder auf den Wirt los. „Ist das wahr?" fragte der Unteroffizier ihn,
„Natürlich ist es wahr! Die deutsche Frau lügt nicht!" zitierte Helen einen der idiotischen Aussprüche des Regimes.
„Und wer sind Sie?" fragte mich der Unteroffizier. „Der Chauffeur", erklärte ich und zupfte an meinem Monteuranzug.
„Also los!" schrie der Unteroffizier den Wirt an. Der Mann hinter der Theke hatte aufgehört zu grinsen.
„Sollen wir Ihnen die Bude schließen?" fragte der Unteroffizier.
Helen übersetzte mit großem Genuß und fügte noch eine Anzahl „salauds" und „sales etrangers" hinzu. Das letzte entzückte mich besonders; einen Franzosen in seinem eigenen Land einen dreckigen Ausländer zu nennen, konnte nur von jemand voll genossen werden, der dasselbe oft genug selbst genannt worden war.
„Henri!" bellte der Wirt. „Wo hast du die Sachen gelassen? Ich weiß von nichts", erklärte er dem Unteroffizier, „der Bursche muß das getan haben."
„Er lügt", übersetzte Helen. „Er schiebt die Schuld auf den Gorilla dort. Raus mit den Sachen", sagte sie zum Wirt. „Sofort! Oder wir holen die Gestapo!"
Der Wirt gab Henri einen Tritt. Er schlich davon. „Entschuldigen Sie", sagte der Wirt zum Unteroffizier. „Ein Mißverständnis. Ein Gläschen?"
„Cognac", erwiderte Helen. „Den besten." Der Wirt stellte ein Glas auf den Schanktisch. Helen starrte ihn an. Er fügte zwei Gläser hinzu. „Sie sind eine tapfere Frau", sagte der Unteroffizier.
„Die deutsche Frau fürchtet sich vor nichts", zitierte Helen die Nazi-Ideologie und legte die zerbrochene Pernodflasche weg.
„Was für einen Wagen fahren Sie?" fragte mich der Unteroffizier.
Ich sah ihm fest in seine harmlosen grauen Augen. „Mercedes, den Wagen des Führers, selbstverständlich!"
Er nickte. „Es ist schön hier, was? Nicht so wie zu Hause, aber doch schön, finden Sie nicht?
„Sehr schön. Nicht wie zu Hause, das ist klar."
Wir tranken. Der Cognac war hervorragend. Henri kam mit unseren Sachen und legte sie auf einen Stuhl. Ich kontrollierte den Rucksack. Es war alles da.
„In Ordnung", sagte ich zu dem Unteroffizier.
„Es war Schuld des Burschen", erklärte der Wirt. „Du bist entlassen, Henri! Scher dich raus!"
„Danke, Unteroffizier", sagte Helen. „Sie sind ein deutscher Mann und ein Kavalier."
Der Unteroffizier salutierte. Er war unter fünfundzwanzig Jahre alt. „Da wäre noch die Rechnung für den Dubonnet und die Flasche Pernod, die zerbrochen worden sind", sagte der Wirt, der wieder Mut gefaßt hatte.
Helen übersetzte. „Kein Kavalier", fügte sie hinzu. „Es war Notwehr."
Der Unteroffizier nahm die nächste Flasche von der Theke. „Erlauben Sie", meinte er galant. „Schließlich sind wir nicht umsonst die Sieger!"
„Madame trinkt keinen Cointreau", erklärte ich. „Nehmen Sie den Cognac, Unteroffizier, auch wenn er schon angebrochen ist."
Der Unteroffizier präsentierte Helen mit der Flasche. Ich steckte sie in den Rucksack. Wir verabschiedeten uns vor der Tür. Ich hatte Sorge, daß der Soldat uns bis zu unserm Mercedes begleiten wolle; aber Helen machte das ausgezeichnet. „So was kann bei uns nicht passieren", sagte der junge Mann stolz beim Abschied. „Bei uns herrscht Ordnung."
Ich sah ihm nach. Ordnung, dachte ich. Mit Foltern, Genickschüssen und Massenmord! Gib mir lieber hunderttausend kleine Betrüger wie diesen Wirt! „Wie fühlst du dich?" fragte Helen. „Gut. Ich wußte nicht, daß du so fluchen kannst." Sie lachte. „Ich habe es im Lager gelernt. Wie das befreit! Ein Jahr Internierung ist plötzlich von meinen Schultern geglitten! Aber wo hast du gelernt, mit zerbrochenen Flaschen zu kämpfen und Leute zu Eunuchen zu treten?"
„Im Kampf um die Menschenrechte", erwiderte ich. „Wir leben im Zeitalter der Paradoxe. Zur Erhaltung des Friedens führen wir Krieg."
Es war fast so. Man war gezwungen, zu lügen und zu betrügen, um sich zu verteidigen und am Leben zu bleiben. In den nächsten Wochen stahl ich den Bauern Obst von den Bäumen und Milch aus den Kellern. Es war eine glückliche Zeit. Sie war gefährlich, lächerlich, manchmal trostlos und oft komisch — aber sie war nie bitter. Ich habe Ihnen soeben den Zwischenfall mit dem Wirt erzählt; ähnliche Situationen gab es bald mehr. Sie kennen das wahrscheinlich auch?"
Ich nickte. „Wenn man sie so auffassen konnte, waren sie oft komisch."
„Ich lernte es", erwiderte Schwarz. „Durch Helen. Sie war ein Mensch, in den sich keine Vergangenheit mehr sammelte. Das, was ich nur manchmal gefühlt hatte, wurde in ihr strahlende Wirklichkeit. Die Vergangenheit brach bei ihr jeden Tag ab wie das Eis hinter dem Reiter über den Bodensee. Dafür drängte sich alles in die Gegenwart. Das, was sich bei anderen über ein Leben verteilt, konzentrierte sich bei ihr auf den Augenblick; aber es war keine starre Konzentration. Sie war völlig gelöst, heiter wie Mozart und unerbittlich wie der Tod. Die Begriffe Moral und Verantwortung, in ihrem dumpfen Sinne, existierten nicht mehr; höhere, fast ätherische Gesetze traten an ihre Stelle. Sie hatte keine Zeit mehr für etwas anderes. Wie ein Feuerwerk sprühte sie, aber ohne Asche. Sie wollte nicht gerettet werden; ich glaubte das damals noch nicht. Sie wußte, daß sie nicht zu retten war. Da ich aber darauf bestand, ließ sie es zu — und ich, Narr, schleppte sie den Kreuzweg entlang, alle zwölf Stationen, von Bordeaux nach Bayonne und dann den endlosen Weg nach Marseille und zurück bis hierher.