„Ich? Was kann ich ihnen sagen?"
„Du bist da gewesen. Du warst drüben in einem Lager. Du bist zurückgegangen. Und wieder geflohen."
„Wo soll ich es ihnen sagen?"
„Hier. Ich hole den Mann. Ich weiß, wo er ist. Sofort. Ich habe es ihm gesagt. Man kann ihn noch retten."
Nach einer Viertelstunde brachte sie einen schmächtigen Mann, der sich weigerte, durch den Stacheldraht zu kriechen. Er stand auf der Lagerseite und ich auf der anderen, und er hörte mir zu. Ein wenig später kam die Frau. Sie war sehr blaß und sprach kein Wort. Man hatte die beiden und ihr Kind vor etwa zehn Tagen aufgegriffen. Sie waren getrennt in verschiedenen Lagern gewesen und dann geflohen, und der Mann hatte die Frau durch ein Wunder wiedergefunden. Sie hatten überall auf den Straßensteinen und an den Häuserecken ihre Namen hinterlassen."
Schwarz sah mich an. „Sie kennen die Via Dolorosa?"
„Wer kennt sie nicht! Sie reicht von Belgien bis in die Pyrenäen."
Die Via Dolorosa war zu Beginn des Krieges entstanden. Nach dem Einbruch der deutschen Truppen in Belgien und dem Durchbruch der Maginotlinie hatte die große Flucht eingesetzt, zuerst mit Automobilen, beladen mit Hausrat und Betten, dann mit jeder Art von Vehikeln, mit Fahrrädern, mit Pferdekarren, mit Karren, die von Menschen gezogen wurden, mit Kinderwagen und schließlich in endlosen Reihen zu Fuß, dem Süden zu, verfolgt von Stuka-Bombern, durch den Hochsommer Frankreichs. Auch die Flucht der Emigranten, dem Süden zu, begann. Damals entstanden die Straßenzeitungen. An den Mauern der Straßen, an Häusern in Dörfern, an den Ecken der Kreuzungen wurden die Namen und Hilferufe von Menschen, die sich suchten, von ihnen angeschrieben, mit Kohle, mit Kreide, mit Farbe. Die Emigranten, die bereits seit Jahren flüchteten und sich vor der Polizei versteckten, hatten außerdem eine Kette von Stützpunkten, die von Nizza bis Neapel und von Paris bis Zürich reichte. Es waren Leute, die dort wohnten und Nachrichten vermittelten, Adressen austauschten, Rat gaben und bei denen man auch ein paar Nächte unterkommen konnte. Durch ihre Hilfe hatte der Mann, von dem Schwarz sprach, seine Frau und sein Kind wiedergefunden, etwas, was sonst schwieriger gewesen wäre, als die sprichwörtliche Stecknadel in einem Heuhaufen zu finden.
„Wenn wir bleiben wollen, werden wir wieder getrennt, erklärte der Mann mir", sagte Schwarz. „Dies ist ein Frauenlager. Wir sind zusammen eingeliefert worden, aber nur für ein paar Tage. Man hat mir schon mitgeteilt, daß ich anderswohin käme, in eines der Männerlager. Wir könnten es nicht ertragen." Er hatte alles überlegt; es sei besser so. Fliehen könnten sie nicht; das halten sie versucht. Sie wären fast dabei verhungert. Jetzt sei das Kind krank, die Frau erschöpft — und er selbst habe keine Kraft mehr. Es sei besser, freiwillig zu gehen; wir andern seien nur noch wie Vieh in den Hallen eines Schlachthofes. Man würde uns nach Bedarf und Laune holen. „Weshalb hat man uns nicht gehen lassen, als es noch Zeit war?" sagte er zum Schluß, ein sanfter, schmaler Mann mit einem schmalen Gesicht und einem kleinen, dunklen Schnurrbart.
Niemand hätte eine Antwort darauf gewußt. Man wollte uns zwar nicht haben, aber man wollte uns auch nicht gehen lassen — das war im Zusammenbruch einer Nation ein geringfügiges Paradox, dem wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde von denen, die es hätten ändern können.
Am folgenden Nachmittag kamen zwei Lastwagen die Straße herauf. Im gleichen Augenblick sah ich, wie der Stacheldraht lebendig wurde. Etwa ein Dutzend Frauen halfen einander beim Hindurchkriechen. Sie schwärmten in den Wald. Ich hielt mich versteckt, bis ich Helen bemerkte, „Wir sind gewarnt worden von der Präfektur", sagte sie. „Die Deutschen sind da, die abzuholen, die zurück wollen. Man weiß nicht, was sonst noch passiert; deshalb ist uns erlaubt worden, uns im Walde zu verstecken, bis sie weg sind."
Es war das erstemal, daß ich sie am Tage sah, abgesehen von dem Augenblick auf der Straße. Ihre langen Beine und ihr Gesicht waren braun; aber sie war sehr dünn. Die Augen waren zu groß und zu glänzend, und das Gesicht war zu schmal. „Du gibst mir dein Essen und hungerst selbst", sagte ich.
„Ich habe genug zu essen", erwiderte sie. „Dafür ist gesorgt. Hier — " sie steckte die Hand in die Tasche —, „da ist sogar ein Stück Schokolade. Gestern konnten wir Pate de foie gras und Sardinen in Büchsen kaufen. Aber kein Brot."
„Geht der Mann, mit dem ich gesprochen habe?" fragte ich.
„Ja..."
Helens Gesicht zuckte plötzlich. „Ich gehe nie zurück", sagte sie dann. „Nie! Du hast es mir versprochen! Ich will nicht, daß sie mich fangen!" „Sie werden dich nicht fangen." Die Wagen fuhren nach einer Stunde wieder ab. Die Frauen sangen. Verweht klang es herüber: Deutschland, Deutschland über alles.
In dieser Nacht gab ich Helen einen Teil des Giftes, das ich in Le Verriet bekommen hatte.
Einen Tag später wußte sie, daß Georg erfahren hatte, wo sie war. „Wer hat es dir gesagt?" fragte ich.
„Jemand, der es weiß."
„Wer?"
„Der Arzt des Lagers."
„Woher weiß er es?"
„Von der Kommandantur. Dort ist angefragt worden."
„Hat der Arzt gesagt, was du tun sollst?"
„Er kann mich ein paar Tage in der Krankenbaracke verstecken. Nicht lange."
„Dann mußt du aus dem Lager heraus. Von wem kam gestern die Warnung, daß die von euch, die gefährdet seien, sich im Wald verstecken sollten?"
„Vom Präfekten."
„Gut", sagte ich. „Sieh zu, daß du deinen Paß und einen Entlassungsschein von hier bekommst. Vielleicht kann der Arzt dir helfen. Wenn nicht, dann fliehen wir. Mach fertig, was du mitnehmen willst. Sage niemand etwas. Niemandem! Ich werde versuchen, mit dem Präfekten zu sprechen. Er scheint ein Mensch zu sein."
„Tu es nicht! Sei vorsichtig! Um Gottes willen, sei vorsichtig!"
Ich reinigte meinen Monteuranzug, so gut es ging, und verließ morgens den Wald. Ich mußte damit rechnen, deutschen Patrouillen oder französischen Gendarmen in die Hände zu laufen; aber damit mußte ich von jetzt an immer rechnen.
Es gelang mir, vor den Präfekten zu kommen. Ich bluffte einen Gendarmen und einen Schreiber, indem ich als deutscher Techniker auftrat, der Auskunft haben wollte über die Errichtung einer elektrischen Leitung für militärische Zwecke. Wenn man das Unvermutete tut, kommt man manchmal durch, das hatte ich gelernt. Als Flüchtling hätte mich der Gendarm sofort festgenommen. Diese Sorte Menschen reagiert am besten auf Anschreien.
Dem Präfekten sagte ich die Wahrheit. Er wollte mich zuerst hinauswerfen. Dann amüsierte ihn meine Frechheit. Er gab mir eine Zigarette und sagte, ich solle mich zum Teufel scheren, er wolle nichts gesehen und gehört haben. Zehn Minuten später erklärte er mir, er könne nichts tun, die Deutschen hätten wahrscheinlich Listen, und sie würden ihn verantwortlich machen, wenn jemand fehle. Er wolle nicht in einem deutschen Konzentrationslager verkommen.
„Herr Präfekt", sagte ich, „ich weiß, daß Sie Gefangene geschützt haben, Ich weiß auch, daß Sie Ihren Befehlen folgen müssen. Aber Sie und ich wissen ebenso, daß Frankreich im Chaos der Niederlage steht, daß Befehle von heute die Schande von morgen sein können und daß, wenn Konfusion in sinnlose Grausamkeit ausartet, Entschuldigungen dafür selbst später schwer zu finden sind. Wozu sollen Sie, gegen Ihren Willen, unschuldige Menschen in einem Stacheldrahtkäfig bereithalten für Krematorien und Folterlager? Es mag sein, daß in der Zeit, als Frankreich sich noch verteidigte, ein Schein von Recht bestand, Ausländer in Internierungslager zu sperren, ganz gleich, ob sie für oder gegen die Angreifer waren. Aber der Krieg ist längst zu Ende; vor wenigen Tagen haben die Sieger die Ihren zurückgeholt — was Sie jetzt noch im Lager haben, sind Opfer, die jeden Tag vor Angst vergehen, daß man sie zum Tode abholen wird. Ich sollte Sie für alle diese Opfer bitten — ich bitte Sie nur um eines davon. Wenn Sie Listen fürchten, dann tragen Sie meine Frau als geflüchtet ein — tragen Sie sie meinetwegen als gestorben ein, als Selbstmörderin, wenn Sie wollen, dann kann Sie keine Verantwortung treffen!"